Kapitel 2
Hyronimus Geist murmelte etwas, griff zur Kaffeetasse und verschanzte sich hinter der Morgenzeitung, ließ sie aber gleich wieder erschrocken sinken. Seine Frau Klara hatte mit der Handkante darauf geschlagen.
»Ich habe es so satt!«, schrie sie. »Entweder liest du Zeitung, schaust Sportschau und hörst gleichzeitig Sport im Radio. Dann verdrückst du dich in den Keller zu deiner blöden Eisenbahn. Siehst du mich eigentlich noch?« Sie strich sich über ihre Haare und fühlte, ob der Knoten noch richtig saß. »Ich wusste es ja schon immer, dass du dumm bist. Aber das darf man heute ja nicht mehr sagen. Deshalb meine ich, dass du mit gedrosselter Leistung denkst.« Klara schnaubte. »Nichts bekommst du mit!«
»Aber Klärchen«, meinte er entsetzt, »natürlich. Wir sind jetzt über 40 Jahre verheiratet. Da flüstert man sich nicht stündlich Liebesschwüre ins Ohr.«
»Du Blödmann! Du interessierst dich für gar nichts mehr.«
»Meine Eisenb...«, er verstummte.
Unbeirrt fuhr Klara fort. »Oder hast du gesehen, dass seit Neuestem bei den beiden Weibern da drüben ein Mann, ein jüngerer Mann, ein- und ausgeht?« Wütend blitzten ihre Augen auf.
»Das geht uns doch überhaupt nichts an.« Und in Gedanken fügte er an: Du bist einfach nur neugierig.
»So? Vielleicht ist das ein Vergewaltiger oder ein Hei- ratsschwindler, ein Dieb, was weiß ich.«
»Trotzdem geht es uns nichts an. Die Damen werden schon wissen, was sie tun.«
Klara schnaufte verächtlich, begann den Tisch abzuräumen. Sie zog ihrem Mann die noch halb gefüllte Kaffeetasse weg. Hyronimus sah ihrer dürren Gestalt nach, als sie das Tablett in die Küche trug. Was war nur aus ihnen geworden? Natürlich wusste er, was die Nachbarschaft über sie tuschelte. Klara war die Zeitung der Straße. Ihr entging nichts. Jedes Auto, das falsch parkte, schrieb sie auf und zeigte es natürlich bei der Polizei an. Einmal beobachtete er sie sogar, als sie in den Mülleimern der Nachbarschaft herumsuchte. Breit ließ sie sich dann darüber aus, was die Nachbarn aßen oder was sie sich schon wieder geleistet hatten. Kein Wunder, dass auch er nicht mehr gegrüßt wurde.
Seine einzige Freude war, an seiner Eisenbahnanlage zu basteln. Er seufzte. Warum hatte sich Klara so verändert? Lag es daran, dass sie keine Kinder hatten? Seitdem er in den Ruhestand geschickt wurde, schließlich hatte er sein Soll erfüllt, bekam er es noch mehr mit. Auch, wie hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Beliebt in der Nachbarschaft, das waren sie sicher nicht. Mit besonderem Interesse verfolgte sie die Aktivitäten der beiden Damen. Die waren ihr eindeutig zu lebenslustig. Und das in deren Alter! Mit Blick auf die Zornesfalte, die sich über ihrer Nasenwurzel gebildet hatte, verzog er sich wortlos in seinen Bastelkeller.
Margarete rührte gedankenverloren im Topf. Sie hatte Gemüse klein geschnitten und kochte Minestrone. Sie mochte Gemüse, und wenn sie Lust hatte, machte sie sogar ihr Brot selbst. Dazu nahm sie Haferflocken, Eier, Joghurt, Walnüsse, etwas Salz und Backpulver. Diesmal nahm sie die doppelte Menge, denn Brunhilde sollte auch so ein Brot bekommen. Praktisch als gesunden Ausgleich, denn mit Vorliebe stellte Margarete Pralinen her. Am liebsten mochte sie exotische Kreationen mit Chili, Pfeffer oder Kurkuma.
Sie dachte intensiv über den Vorschlag ihrer Freundin nach. Ihr ging es finanziell gut. Ihr letzter Mann war in leitender Position tätig gewesen, ihre Rente konnte sich sehen lassen. Auch Brunhilde musste nicht sparen, manch schöne Reise hatten sie gemeinsam unternommen. Theater- und Kaffeehausbesuche waren auch drin, ohne dass es dann den Rest der Woche Nudeln mit Ketchup geben musste. Wenn sie an ihren Neffen Klaus dachte, ging ihr das Herz auf. Ein lieber, aufrechter Junge war das. Und seine Freundin Cora war ein echter Schatz. Die beiden harmonierten so gut miteinander. Hoffentlich blieben sie beieinander, denn der Beruf eines Kriminalbeamten war nicht immer leicht. So viele Überstunden und Nachteinsätze, das musste eine Frau erst mal verstehen und aushalten können. Und dazu die Angst im Nacken, dass ein Einsatz tödlich enden konnte.
Margarete seufzte. 80 Jahre war sie jetzt. Ihr selbst waren zwei liebevolle Ehemänner vergönnt gewesen. Beide Männer hatte sie begraben müssen. Brunhilde teilte ein ähnliches Schicksal. Deshalb verstanden sie sich wohl auch so gut – oft auch ohne Worte. Warum sollte sie sich nichts gönnen? In Begleitung eines Gigolos? Sie benutzte mit Absicht das Wort, denn sie war sich durchaus bewusst, dass Ricardo für seine Dienste bezahlt werden wollte.
Welche Ideen Brunhilde immer hatte! Das war ein tolles Geburtstagsgeschenk. Sie knackte mit den Fingern, gab sich erneut ihren Gedanken hin. Das war wirklich ein schöner Tag, ein toller Ausflug mit diesem Mann gewesen. »Es hat richtig gut getan, mal wieder verwöhnt und ein bisschen hofiert zu werden«, sagte sie laut. Ihre Gedanken gingen zu Philipp Merz zurück. Das war ein Galan der alten Schule. Er war kein Schürzenjäger, hatte alles genossen, was sie alleine oder zu zweit mit ihm unternommen hatten. Er war auch nicht ganz unvermögend und hatte sie beide öfter eingeladen.
Seine Gunst verteilte er gleichmäßig an sie und an Brunhilde. Sie waren immer unterwegs, auf Achse gewesen, wie sie übereinstimmend meinten. Selbst kleinere Reisen, Wochenendtrips, hatten sie sich gegönnt. Mit Vorliebe werkelten sie im Garten. Es war ihnen zwar kein Preis vergönnt bei diesem Barockwettbewerb, dafür war der Spaß, den Garten zu gestalten, preiswürdig gewesen. Mit Ricardo war das wohl etwas anderes. Für seinen Begleitservice mussten sie bezahlen.
»Ich mach’s!«, rief sie laut. Dann eilte sie zum Telefon, drückte auf den Kurzwahlknopf; die Nummer war einge- speichert. Es läutete gerade einmal, als der Hörer auch schon abgenommen wurde. »Wir machen es!«
»Ja«, rief Brunhilde begeistert in den Hörer.
»Dann schwing deine Revuestäbchen rüber und lass uns Pralinen machen. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«
»Gibts auch Kaffee?«
»Klaro, das weißt du doch. Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Wie möchtest du ihn?«
»Am liebsten mit Kuchen.«