Auf Lager
Nick hat vor vielen Jahren Elternhaus und Heimat verlassen. Als seine Mutter stirbt, kehrt er zum ersten Mal wieder an den Ort seiner Kindheit zurück. Auf der Beerdigung treffen alle zusammen: sein jüngerer Bruder Ben, seine Jugendliebe Charlotte,der Provinzmusiker Max unddie Freundin seiner Mutter.In der Begegnung mit ihnen stößt Nickauf Ungereimtheiten und Fragen,die sein Leben über Nacht auf den Kopf stellen. Wie ist seine Mutter gestorben undwer war sie wirklich? Welche Rolle spielen sein undurchsichtiger Bruder und Charlotte? Bei der Suche nach Antworten muss Nick sich seinen eigenen Täuschungen stellen.
In dieser Sekunde, in der sich vor seinen Augen die Einzelheiten aufreihen wie auf einer Perlenschnur, erkennt Nick die Wahrheit. Nicht im Detail und nicht mit der konkreten, rationalen Wirklichkeit seines Verstandes. Vielmehr offenbart sich ihm ein seltsames und berührendes Spektakel: drei Menschen, die nach siebenundzwanzig Jahren wieder aufeinandertreffen, um herauszufinden, wer sie wirklich sind. Jeder von ihnen in seinen eigenen Wahnvorstellungen gefangen, jeder von seinem eigenen Strudel erfasst und jeder angezogen und gleichzeitig abgestoßen von den jeweils anderen. Verstrickt in einer gemeinsamen Geschichte und verbunden durch die Hoffnung, irgendwie aus dem Schlamassel der gemeinsamen Vergangenheit wieder herauszufinden.
»Das ist, was mich umtreibt: Dass die inneren und äußeren Umstände, in denen wir aufwachsen, in uns weiterwirken, über die Generationen hinaus.«
Hannes Jahn - Das gleiche Leben. Nur anders., Roman, 215 Seiten, Klappenbroschur, ISBN 978-3-911472-00-5, Ladenpreis 15,00 EUR
Tag eins
Drei Worte
»Caffè per favore.«
Nick platziert sich so auf einem der hüfthohen Barhocker am Tresen, dass er durch die Fenster und die offene Glastür das Treiben draußen vor dem Café Centrale beobachten kann. Um diese Zeit lässt die Kraft der Herbstsonne schon am frühen Abend nach, aber unter den Arkaden vor der Bar flirrt noch immer die Wärme des Tages und die letzten Sonnenanbeter kommen vom nahen Strand. Er lächelt in sich hinein. Bald beginnt die Zeit, wenn einheimische Männer und Frauen durch die Straßen flanieren, und der Chor ihrer Stimmen bis spät in der Nacht zu hören sein wird. So liebt er die Stadt am meisten, wenn sie nach den hektischen Sommermonaten zu ihrem eigenen Rhythmus zurückfindet, aus den turbulenten Wochen der Hochsaison endlich, gierig Atem schöpfend, auftaucht wie eine Apnoetaucherin.
Zufrieden gönnt er sich einen tiefen, aber stillen Seufzer. Sein Blick wandert an die Wand hinter der Bar, wo eine seit langem vergilbte Fotografie hängt, die die Stadt vom Meer aus zeigt, an den Seiten wie in einer ewigen Umarmung gehalten von der historischen Stadtmauer, im Vordergrund das Hafenviertel und dahinter die Altstadt, die sich mit ihren bunten, klassizistischen Fassaden den Hügel hinaufwindet. Oppidum caralis hat jemand auf einen Zettel geschrieben und daneben gepinnt. Schon vor siebenundzwanzig Jahren, als er die Café-Bar auf seiner ersten Stadterkundungen entdeckt hatte, erkannte Nick indiesen beiden Worten eine Botschaft. Er hatte gerade den großen Bruch vollzogen, war von zu Hause geflüchtet, hierher in ein anderes Land, in eine andere Stadt, wo ihn niemand kannte, und wo er sich einigermaßen sicher fühlte. Er nahm an einem Sprachkurs teil und in seiner Jacke steckte ein Briefumschlag mit der Bescheinigung einer der ältesten Universitäten Italiens: Inscritto al corso di giornalismo: Niklas Nesper, nato 29.03.1974 – Università degli Studi di Cagliari. Weit weg von den verdammten Aktionen seiner Familie, in heller, bisher völlig unbekannter Aufbruchstimmung und am Beginn eines neuen Lebens, in dem er endlich für sich selbst entscheiden konnte. Oppidum caralis: Schutzburg Cagliari. Eine verlockendere Einladung konnte ihm das Leben damals gar nicht bieten. Der Espresso schiebt sich in sein Blickfeld, Nick nippt die haselnussbraune Crema vom Tassenrand und kippt den Rest hinterher. Seit jenem Tag dienen ihm Cagliari und später die kleine Wohnung in der Via Sicilia als Rückzugsort. Obwohl er sich in Dresden wohlfühlt. Dort ist seine Arbeit, dort lebt Zhara. Aber das Gefühl, unerkannt und unerreichbar für die Nackenschläge des Lebens zu sein, stellt sich nur hier ein. Er braucht das Alleinsein, die heimlichen und unerlaubten Auszeiten, wenn ihm das Leben eine neue Enttäuschung vor die Füße warf. Sein erster Gang führt ihn stets ins Café Centrale. In sein persönliches Mekka. Erst danach schlendert er hinauf durch die Gassen der Altstadt bis in die Sicilia, wo die alte Concierge bereits die Fenster zum Lüften geöffnet und ein paar Blumen auf den Tisch gestellt hat. So hieß sie ihn schon willkommen, als er, frisch als Hot-Spot-Journalist von Köln in das Verlagshaus nach Dresden gewechselt, die Wohnung anmietete. Immer wogen die stillen Tage in der Sicilia die exzentrische Aufgeregtheit seines Berufes auf und immer gewann er auf dem winzigen Südbalkon mit den Slow-Motion-Sonnenuntergängen seine Balance zurück. Hier konnte er sich verschanzen und seine Wunden lecken.
Allerdings muss er sich eingestehen, dass dieses fragile Gleichgewicht bedrohlich ins Schwanken geriet, als Zhara ihn besuchen kam. Letzten Sommer, sie steckten beide in wichtigen Projekten und Zhara überredete ihn, die Sicilia versuchshalber gemeinsam zu nutzten, brachte er keinen vernünftigen Satz aufs Papier und die anvisierten drei Wochen Testlauf endeten schon nach wenigen Tagen. Die Wohnung war seine Fluchtburg, kein Co-Working-Space.
Nick sieht zur Kellnerin hin und merkt gleichzeitig, dass er wieder auf seiner Wange herumkaut. Die alte Marotte. Mit schiefem Lächeln gibt er ihr ein Zeichen, beobachtet, wie sie mit schnellen, routinierten Bewegungen den Siebträger mit Kaffeemehl belädt und in die Maschine spannt. Als der Kaffee vor ihm steht, lehnt er sich behaglich mit dem Rücken an die Theke, schnüffelt das dunkle Aroma, nimmt einen Schluck und spürt mit der Zunge, wie sich die Flüssigkeit weich in seinem Gaumen ausbreitet. Kein Vergleich mit der bitteren Brühe, die ihnen in den Sitzungen des Dresdener Verlagshauses angeboten wird. Aber abgesehen von der schwarzen Torfsuppe dort kann er sich über seine Position im Verlag nicht beklagen. Seine Dokumentation zu Zharas Stiftung in Kathmandu ist für den Verlagspreis nominiert worden und die Artikelserie über Integrationsprojekte für junge syrische Geflüchtete wird im Dezember erscheinen. Dafür hat sich der Stress gelohnt.
Sein Mobiltelefon leuchtet auf. Er starrt auf das Display.
Mutter ist tot.
Drei Worte. Sonst nichts.