Die Laufrichtung
Ein Blatt hat sich im Schulzaun verfangen, das Papier weiß und kleinkariert. Es flattert in der grünen Doppelstabmanschette aus Stahl, verzinkt und pulverbeschichtet, als wolle es sich befreien. Worte sind darauf notiert, angerissene Sätze, quer über die Karos. Schwer zu sagen, ob sie im Unterricht entstanden sind und wieder verworfen wurden, oder ob ein junger Mensch versucht hat, seine Gedanken für sich selbst zu ordnen, statt für die Lehrkraft. Neben dem Blatt im Zaun erscheinen zwei Paar Schuhe. Sneakers. Die einen ausgelatscht, ihr Weiß längst ein Bodenstaubgrau, die Schnürsenkel ausgefranst. Die anderen überaus gepflegt, wuchtig, mit einem Fersenteil, das wirkt, als hätte man einen kleinen Autoscooter hinten auf den Schuh geschoben.
»Vielleicht geht es um Mathe.«
»Alter, was?«
»Ja, Herr Keller sagt doch, wir sollen immer ganz genau auf die Worte achten. So. Und jetzt achte mal genau auf die Worte.«
Der junge Mann in den ausgelatschten Schuhen klappt seinen Daumen auf, um damit eine Aufzählung zu starten. »Du hast Winkel. Du hast rechts und links. Du hast Ferne. Du hast ...«
»Ach, hör auf. Der Text dreht sich nur wieder um die Psychosen von diesem Typen. Der war einfach untervögelt. Fertig, aus. Das schreibe ich in die Interpretation.«
Der Autoscooter scharrt mit den Füßen, als wolle er einen Strich unter seinen Scherz ziehen. Rückwärtsgang, ruckartig, auf der Kirmes gäbe es Zusammenstoß und Nackenschmerzen. Der Ausgelatschte stellt sich gerader auf, dreht sich zum Scooter, sein Hosenbund schiebt sich hinter dem Gitter ein Element höher. Der Zaun könnte von uns sein, also vom Partnermarkt für die Baustoffe, nicht aus meiner vertrauten Halle für Privatkunden.
Von uns. Auf einmal kann ich das sagen, kann ich das denken, ohne dass mir die Scham über meinen Job den Rücken hinaufkriecht. Wer hätte das geahnt? Jeder Job lädt sich mit Würde auf, sobald er dazu dient, ein sinnvolles Leben zu sichern.
»Ich meine das ernst, du Fisch. Was, wenn es in dem Text bloß um Geometrie geht? Um Perspektive? Da eilen lange Mauern aufeinander zu. Was ist das anderes als die Beschreibung, wie Perspektive funktioniert? So lernt man als Kind, wie man den Fluchtpunkt malt. Und wie heißt das wichtigste Wort in dem ganzen Text? Laufrichtung! Das kann man auch wie Mathe deuten.«
Ich bleibe stehen. Die Stimme des Oberstufenschülers in den uneitlen Turnschuhen liegt eigentlich schon hinter mir, aber jetzt klingt es, als brülle er von allen Seiten in meine Ohren. Es rauscht. Zwischen meinen Rippen bilden sich Wirbel aus Hitze und Sog. Ich drehe mich um, laufe die fünf Schritte zum Zaun zurück und zitiere vor den Schülern den Text, der eigentlich gar nicht mehr existiert. Es braucht einige Worte, bis sie überhaupt begreifen, was dieser fremde Mann dort vor ihrem Schulzaun vom Typ Doppelstabmanschette macht. Die einzelnen Sätze beende ich, als ob sie Fragen wären, reiße sie dabei sogar auseinander. Ein Sakrileg, aber ich muss es testen. Muss herausfinden, ob es wirklich sein kann, dass Franz wieder in der Welt ist.
»Ach, sagte die Maus, die Welt wird enger mit jedem Tag? Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte? Ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin? Und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe?«
Die Schüler sehen mich an, als sei mir nach dieser Rezitation noch mehr Wahnsinn zuzutrauen. Seinem Blick nach befürchtet der Autoscooter, dass ich gleich blankziehe. Der Ausgelatschte legt den Kopf schief und senkt seine rechte Braue.
»Sie kennen das auswendig?«
»Was, das?«, frage ich.
Er muss es aussprechen. Muss seinen Namen sagen.
»Na, diese Fabel.«
»Von?« Ich beuge mich nach vorn, lege die Hände auf den Rand des Zauns. Die oberen Enden der Längsstreben stehen zwei Millimeter über, drücken in meine Handflächen. Der Ausgelatschte zieht die Braue wieder hinauf.
»Na, von der Maus und der Katze.«
»Ich meine den Autor!«, rufe ich, so laut, wie Michael Biehn in seiner Rolle als Kyle Reese im ersten Terminator-Film geschrien hat: »Das Jahr!«
»Ja, Kafka, Mann! Wer denn sonst?«