Er rauchte, anstatt das Geschirr zu spülen. Stand am Fenster seiner Zwei-Zimmer-Wohnung und hielt die Dämonen auf Abstand. Der Abendhimmel, rosahöllenrot. Die Sonne verkroch sich langsam hinter den Dächern, zugleich hing bereits ein aufmüpfiger Mond am Firmament. Als hätte letzterer den Kampf für diesen Moment gewonnen.
Die schirmlosen Glühbirnen leuchteten angestrengt in seinem Wohnzimmer. Als gelte es, die Dunkelheit um jeden Preis zu verhindern.
Die Möbel seiner kleinen Wohnung, ein kurioses Sammelsurium aus Selbstgebautem, Sperrmüllteilen und Designerstücken. Ein Sofa aus Europaletten, ein Couchtisch aus Weinkisten. Ein Sessel mit Brandlöchern und abgewetztem Stoff, in der Nase noch muffiger als er aussah. Die Stehlampe ein knallgrünes Designerstück mit ausuferndem Schirm. Ein Geschenk seiner Eltern zum Studienbeginn. Der rote Faden in seiner Einrichtung bestand darin, dass es konsequent keinen roten Faden zu geben schien.
Sein Blick haftete an der Nacktheit seiner Wände. Ein Riss schlängelte sich wie eine Selbstverständlichkeit von der Decke in Richtung Sofa. Ben kannte jede Windung und Rundung des Risses auswendig. An manchen Tagen glaubte er, dass das Ende des Risses den abgewetzten Kissen näherkam, wie eine Schlange, die ihre Zunge ausstreckte. Aber in den wenigen Wochen, die er nun hier wohnte, hatte sich das feine Mauerrinnsal nicht verändert.
Ein abgelebtes Ikea-Regal als Raumteiler, eine noch abgelebtere Küche. Auf dem Boden Bananenkisten mit den materiellen Spuren eines früheren Lebens. Ein Leben, daskalendarisch nur Monate zurücklag, aber in seinem Kopf Zeitalter entfernt war.
Ben hätte genug Zeit gehabt, sie auszupacken.
Vielleicht war es zu früh gewesen. Diesen Job anzunehmen. In eine eigene Wohnung zu ziehen. Aber noch weitere Monate die Sofas und Hilfsbereitschaft von Freunden oder Freundinnen zu bemühen, dabei deren Hilflosigkeit zu sehen, oder auch seine Versuche, seinen Zustand zu verstecken, diese Gedanken waren ihm unerträglich geworden. Außerdem hatte das seinen Zustand nicht verbessert. Kontinuität. Das war wichtig. Kontinuität zumindest dort, wo sie in dieser abgefuckten Welt möglich war. Er konnte bereits feststellen, dass ein eigenes Bett in den eigenen vier Wänden viel ausmachte. Ein eigenes Sofa zumindest. Laute Geräusche im Treppenhaus ließen ihn noch immer hochfahren. Aber nichts im Vergleich zu den Panikattacken, die er auf dem WG-Sofa eines Freundes bekommen hatte, wenn einer der Mitbewohner durch das Zimmer gestolpert war.
Sein neuer Job. Der erste Tag war letztlich überraschend gut gelaufen. Allerdings war er auch kurz gewesen. Nur eine Doppelstunde in einer phlegmatischen zehnten Klasse. Montags in den ersten beiden Stunden hatten wohl die meisten Schüler und Schülerinnen noch den Großteil ihrer Synapsen im Bett gelassen oder im Suff der samstäglichen Party unter einem von Schnapsflaschen belagerten Tisch verloren. Und ohne es zu wissen, hatten die ihn anstarrenden müden Gesichter ihm beim Überstehen dieses ersten Tages und dieser ersten beiden Unterrichtsstunden geholfen. Ein wenig interessiert hatten sie ihn schon gemustert, dieses neue Gesicht, augenscheinlich noch nicht so alt, vielleicht erhofften sie sich frischen Wind und Elan und spannende Ideen. Vielleicht ließen sie es aber auch einfach nur über sich ergehen, weil sie ohnehin keine andere Wahl hatten.
Der Gedanke war noch immer ein invasiver. Er unterrichtete jetzt Kunst. An einem Gymnasium. Er war jetzt Kunstlehrer. Oder besser gesagt, er arbeitete als Kunstlehrer. Da bestand ein Unterschied, glaubte er.
Während des Kunststudiums hatten er und seine Mitstudierenden darüber immer Witze gemacht, dass die meisten von ihnen letztendlich doch als Kunstlehrer und -lehrerinnen enden würden. Wenn sie nicht nur kellnern oder Taxi fahren wollten. Künstlerischer Elan, Innovativität, harte Arbeit und Idealismus würde trotz allem nicht ausreichen, um ihnen allen einen Platz in der Kunstwelt zu verschaffen. Den wenigsten würde ein solcher vergönnt sein. Wenn überhaupt. Da konnte man machen, was man wollte. Das würde nicht immer beeinflussbar sein. Glück spielte eine Rolle. Dreistigkeit vielleicht auch. Kompromisse und Anbiederung. Viele Träume, eine neue Frida Kahlo, ein neuer Ai Wei Wei, eine neue Jenny Saville oder ein neuer Banksy zu werden, würden sich als genau das herausstellen: als Träume. Überhebliche und ernüchternde Wunschvorstellungen. Freier Künstler oder Künstlerin sein hieß Einhorn sein. Da konnten die Ideen noch so genial und die Kunst noch so innovativ sein. Die Kunstwelt war ein unbarmherziges Monster fern jeder Gerechtigkeit.
Aber das waren Fragen, mit denen er sich seit Monaten nicht beschäftigt hatte. Ihn quälten andere Dinge. Und letztlich war er tatsächlich froh, diesen Job und dadurch etwas zu tun zu haben. Er hatte nicht lange gezögert, als das Angebot wie ein mitleidiger Zufall zu ihm gekommenwar. Ein Freund hatte einen Freund, der einen Freund hatte und so weiter.
Kunstlehrkräfte waren Mangelware. Wer hätte das gedacht.
Er wusste nicht, ob er das Richtige tat, wusste nur, dass er etwas tun musste. Hatte nicht lange über die Konsequenzen nachgedacht. Die große Anzahl der Menschen, denen er zwangsläufig begegnen musste. Das im Grunde gänzliche Fehlen einer pädagogischen Ausbildung. Die Unvorhersehbarkeiten, die auf ihn warteten. Ben war sich in diesem Moment nur sicher gewesen, dass er irgendwas tun musste. Das ihn beschäftigte und das ihm ein Einkommen verschaffte. Bedenken, ob er das schaffen würde, ob er das wollte, ob er dafür gemacht wäre, waren in den Hintergrund gerutscht. Er wusste nur, dass er es versuchen musste. Und dass diese Aufgabe vielleicht lebenswichtig für ihn war, um ihm im Kampf gegen seine Dämonen zu helfen. Was hatte er schon zu verlieren?