Alles fing an mit dem Umzug von Berlin nach Bonn – in die gefühlte Provinz. Während Max früher davon träumte, ein aufregendes Künstlerleben zu führen, heißt es jetzt: Nine-to-Five-Bürojob, Kind umsorgen, Spieleabende.Wäre da nicht diese heimliche Versuchung im Hintergrund, es doch nochmal mit der Kunst zu versuchen … Während Max tagsüber den ordnungsliebenden Angestellten mimt, driftet er abends ab in ein freiheitsliebendes, mysteriöses Kollektiv, das die Kunst an erste Stelle stellt und radikale Umsturzpläne vertritt. So steht Max kurz davor alles zu verlieren, seine Beziehung, seine Gesundheit, seine Integrität. Ein schwarzhumoriger Roman über die Alles-Wollen-Und-Nichts-Ausschließen-Generation, über die verführerische Wirkung einfacher Lösungen und die befreiende Kraft von Entscheidungen.
Chris Nolde - Vollblutspießer, Roman, Klappenbroschur, 348 Seiten, ISBN 978-3-911472-07-4, Ladenpreis 17,00 EUR
Am Ende bin ich doch einer von ihnen geworden. Sie wissen schon, Leasing Vertrag fürs Auto, Pauschalurlaub, Jahresbonus ...
Wir alle kennen diese Geschichte, haben sie zu oft gehört. Blöd natürlich, dass an diesem Morgen zwei Mittzwanziger an der Straße stehen und mich an ein ganz anderes Leben erinnern. Zum einen, weil sie auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen und womöglich an das Gute im Menschen glauben. Vor allem aber sind es diese Augen, die noch suchend durchs Leben streifen und nicht versuchen, jeder Inanspruchnahme der Wirklichkeit zu entgehen. Da ging wohl etwas mit mir durch, ich habe meinem Impuls nachgegeben und angehalten – und das, obwohl ich schon vor einer halben Stunde im Büro hätte aufschlagen müssen. Eine willkürliche Kernarbeitszeit scheint mir in diesem Moment völlig unbedeutend gegenüber dem Wunsch dieses jungen Pärchens, in die Freiheit aufzubrechen. Zudem weiß ich, dass man sich selbst etwas Gutes tut, sich mit jüngeren Menschen zu umgeben. Man bekommt etwas zu spüren vom Rückenwind dieses Alters, saugt etwas auf von ihrer Power: Auf gesunde Art und Weise naiv, streng in der Gegenwart verhaftet, mit arroganter Gleichgültigkeit gegenüber allen, die ihrem Glück im Wege stehen. Gut, dass die beiden etwas streng riechen nach dem langem Stehen in der Sonne, lässt sich nicht ganz ignorieren, dafür bringen sie den Geruch der Freiheit mit ins Auto. Und wie viel fröhlicher es zugeht, als nur in Stau-Gesellschaft mit mir selbst.
Kerstin und Alex, die es aus Kiel bis hierher ins Rheinland geschafft haben, erzählen mir von ihrem Plan, in den Süden zu trampen, bis nach Italien, um dort irgendeiner ökologischen Lebensgemeinschaft beizutreten. Zunächst für den Sommer, bis das Studium wieder beginnt, dann mal schauen. Ich beglückwünsche sie zu ihrer Abenteuerlust, auch wenn ich sie gleichzeitig darauf hinweisen möchte, mit welchen Gefahren solch ein Leben verbunden ist: soziales Abseits, Romantisierung von Rausch und Exzess, Geschlechtskrankheiten, also all jene Dingen, die ich in meinen Zwanzigern selbst ohne Frage in Kauf genommen hätte. Aber hey, von mir würden sie sich ohnehin nicht entmutigen lassen. Ein fünfunddreißigjähriger VW-Besitzer mit weißem Business-Hemd und ordentlich zur Seite gescheiteltem Haar wird ihnen wohl kaum als inspirierender Taktgeber im Kopf bleiben. Wobei, der ausufernde Bart und die vergnügt blauen Augen verraten vielleicht noch etwas von ihrer wilden Abstammung, Jahren von durchzechten Nächten, Studienabbrüchen und großen künstlerischen Plänen. Aber davon wissen sie nichts. Interessiert sie auch nicht. Jetzt sind sie allein an der Reihe, selbstbewusst in ihrer Position am Scheitelpunkt der Geschichte: Kerstin mit ihren Dreadlocks, die weit bis über den Nacken reichen, Alex in japanischer Streetwear-Hose und langem schwarzem Overall. Beide mit silbernem Geklingel im Gesicht und skandinavischen Rucksäcken auf dem Schoß.
Und ich – ja, das ist das Schöne an meinem neuen Leben – ich spießbürgerlicher Weggenosse kann sie mit Ressourcen wie einem eigenen PKW unterstützen, das ist wohl die Ironie an der Geschichte. Aber ist das alles? Könnte ich nicht vielleicht sogar mehr sein für sie als das? Es ist ein so unerhörter Gedanke, der mich jetzt überfällt, der alle Vernunft über Bord wirft und diesem brachialen Impuls das Ruder überlässt: Was wäre, wenn ich mit ihnen ausbräche? Wenn ich sie bis nach Italien begleitete, hier und jetzt? Wenn ich spontan alle Zügel losließe und sich mein Leben an diesem Punkt abzweigen würde, auf eine völlig neue, mir noch unbekannte Straße?
»Leute«, fange ich an, in der Gewissheit der Bedeutsamkeit dieses Augenblicks. »Was wäre ...« Ich muss den Moment noch ein wenig auskosten, bevor ich die frohe Botschaft verkünde. Sie klimpern gutmütig mit den Augen. Und dann platzt der Einfall wie eine Wasserbombe, ich könnte aussteigen, einen Break ansetzen, vielleicht ein, zwei Monate lang mit ihnen in der Kommune leben, ich würde auch meine Freundin und meinen Hund nachholen, und wir alle würden ein glücklicheres, erfüllteres Leben führen, und dann schauen, wie es weitergeht – wen interessiert schon die Zukunft? Ja, in diesem Moment erscheint mir alles ganz klar. Ich bin einer von ihnen, bin es immer gewesen. Dieses gebügelte Hemd ist bloß eine Verkleidung. So, besser mal schauen, ob die beiden auch so begeistert sind wie ich. Der age gap von fünfzehn Jahren könnte für dezent cringe-ige Stimmung sorgen. Aber nein, nach minimaler Anlaufzeit zeigen sich die beiden hochgestimmt und voller Begeisterung.
»Wie krass! Das ist doch mal echter Zen-Lifestyle, spontan dem Strom folgen, voll geil, Mann!«
Sie jubeln und beglückwünschen mich zu meinem Entschluss. Und ich trommele auf das Lenkrad und drehe vor Aufregung gleich das Radio etwas lauter. Verworfen und gestrig ist der Plan, sie am Verteilerkreis rauszulassen, jetzt wechsle ich die Spur, lenke auf direktem Weg Richtung Süden. Ich muss nur ein paar Vorkehrungen treffen, meiner Freundin Bescheid geben, im Büro Abbitte leisten, dafür nehme ich das Smartphone in die Hand und zögere, tja, wie soll ich eigentlich meinen Ausbruch erklären? Meiner Freundin, meiner Firma? Gerade jetzt, da meine Chefin schon zweimal angerufen und mir eine Nachricht hinterlassen hat: Wo zum Teufel steckst du? Du weißt, dass heute ein wichtiger Tag ist! Ich erwarte dich in meinem Büro, ASAP. Aenne. Die Dringlichkeit ihrer Nachfrage hat womöglich etwas damit zu tun, dass mir in der Firma eine Entscheidung bevorsteht. Ein Problem, das ich gerne in den hintersten Frachtraum meines Bewusstseins verschiebe, damit es ein Problem von später bleibt. Reagieren muss ich wohl. Max, im Ernst, wäre es wirklich schlau, an einem Tag wie diesem alle Zelte abzubrechen? Wäre es nicht intelligenter, ein paar Tage darüber nachzudenken, Vorkehrungen zu treffen und dann das Ganze nochmal ruhig und wohl überlegt anzugehen? Das Gerät in meiner Hand bimmelt, vor Schreck lasse ich es fallen. Ich muss es aus dem Fußraum fischen und werde dafür mit sorgenvollen Blicken von hinten bedacht.
»Alles gut!«, erheitere ich mich künstlich und zeige meinen Fund, halte das Gerät fest wie einen Stein, mit dem ich eine Scheibe einschlagen könnte, und ich weiß plötzlich nicht mehr, was ich hier tue, warum ich hier sitze, wieso zwei Menschen hinter mir hocken und mich so seltsam anstarren.