Meeting remote
»Das Böse ist immer und überall.« Erste Allgemeine Verunsicherung – 80er Jahre; welche Erkenntnis! Just kommt es über die AirPods, die sein Ohr stets mit passenden Klängen versorgten. Er vermag es nicht zu unterdrücken, das Schmunzeln, obwohl er ahnt, dass seine Gesichtszüge von Journalisten und konkurrierenden Kollegen beobachtet werden und das Rätselraten über den Grund seines Mienenspiels augenblicklich in Gang kommt.
Nein, er ist ein Guter, immer schon und obschon ihm nichts Menschliches fremd ist, wie der Volksmund sagt, sind ihm seine moralische Integrität und sein verständnisvolles Gerecht-sein gegenüber jedermann nicht nur Prinzip, sondern gewohnter Alltag. Während die Konferenz ihren Lauf nimmt, online, wie derzeit meistens, dämmert es, dass ihm das allen Ernstes innewohnt, ihn prägt.
Jetzt hat wieder Einer seinen Ton abgeschaltet und gestikuliert in der Erwartung einer Reaktion.
»Kollege! Ja, Wenzel, Sie! Entsperren Sie ihren Mikrofonbutton!«
Nicht, dass es bei dem etwas zu verpassen gäbe, nein, Wenzel ist ein Wiederkäuer: warten, sammeln, wiederholen – das »WSW-Prinzip«. Da die meisten ohnehin vergessen haben, was anfangs gesagt worden war, hat sein redundantes Geschwafel oft einen zusammenfassenden Charakter. Zumindest empfinden es diejenigen so, die so oder so alles verschlafen, abgelenkt vom Alltag ihres ›Home Office‹.
Allein wieder dieser Begriff ›Home Office‹! Er existiert nicht einmal im Englischen, hat er vor kurzem in TikTok gelernt, kleiner Videospot über deutsche Anglizismen – nette Quelle für etwas Heiterkeit zwischenher. Das klappt sogar im Online-Meeting – da ist man stets irgendwie zwischenher. Und treibt anderes Zeug; Lesen zum Beispiel. Wobei der Text dazu auf dem Bildschirm – oder zumindest in Webcamnähe – drapiert sein sollte, sonst stimmt die von den Kollegen wahrgenommene Blickrichtung nicht. Oder zocken, also daddeln mit dem iPhone. Muss ja nicht Candy Crush sein – das Spiel der rotgefärbten Politiker, die in ihrer bierernsten Positionierung zuweilen einen Hauch von altertümlichem Sozialismus verbreiten. Da ist Candy Crush fast ein deutlicher Schritt in die Normalität pandemischer Neuzeit.
Warum spielen die nicht Schach beziehungsweise Scrabble, während sie vorgeblich mit voller Aufmerksamkeit Bedeutsamkeit ausstrahlen oder gar regieren? Hätte doch zumindest einen intellektuellen Anstrich, so als Vorkämpfer der Arbeiterklasse, im bourgeoisen Alltag europäischer und sonstiger Katastrophen. Aktuell keift jeder – am Lautesten die, die ihre Regierungsbeteiligung vornehm abgelehnt hatten, obwohl doch der Wähler, dem sie sich so ostentativ verpflichtet fühlen, anderes im Sinn hatte. Na ja, aus dem Hinterhalt in der ersten Reihe der Klugredner zu stehen ist besser, als für etwas real verantwortlich zu sein. Er hatte allerdings noch nie einen Sportler mit Bronzemedaille erlebt, der trotzig intoniert hätte: »Nein, auf das Treppchen geh’ ich nicht!«
Die Ziege aus der Filiale, ach ja, nicht mal am Bildschirm war sie fähig, sich den Tittentunnel zuzuhängen. Da wird sich Lehmann wieder das Display vergrößern, der fällt ihr schon bei Präsenzveranstaltungen fast hinein. Nur, jetzt merkt das keiner, online ist diskreter. Wer ihn kennt, wird die lüsternen Schweinsäuglein bemerken; obwohl, der schaut im Grunde immer so.
Es empfiehlt sich, bei Gelegenheit einen virtuellen Hintergrund im System zu aktivieren, damit er nicht jedes Mal vor dem Start einer Veranstaltung die Buchrücken zu checken hat: Was sehen die Gegenüber, das ich besitze oder gar lese? Analytischer Blick in die Welt der anderen.
Unbegreiflich, wie mancher in seiner Kellerkemenate vor gestapelten Amazon-Kartons an einer Online-Konferenz teilnimmt. Mit einer Funzel, die weder LED, Lumenzahl noch Farbtemperatur kennt und einer unerträglichen Verbindungsstabilität, die vermuten lässt, dass der Tisch im umgebauten stahlbewehrten Kohlebunker steht.
»Schatz, im Keller ist doch so viel Platz für die ewigen Meetings mit deinen Kollegen. Dann wirst du überhaupt nicht mehr gestört!« Klar, damit seine Gefährtin ungestört Shopping-Queen zu konsumieren vermag.
Was hat denn der Vorsitzende grade wieder für ein Statement verbrochen! Kann das nicht die Kressman vorher lesen? Jetzt postet der das selbst und alle Niederlassungen in Europa und Asien dokumentieren unauslöschlich seine Rechtschreibfehler und Ausdrucksschnitzer. »Investitionskosten« – wieso verstehe ich in einer solchen Position nicht, was das Wort »Investition« bedeutet? Fehlt nur, dass er wieder »zusammenaddieren« sagt, wie kürzlich in der Vorstandssitzung. Ja, es gibt keine Filter im Online-Format, die uns vor Unzulänglichkeiten und Klopsen schützen.
Zumindest ist es jetzt völlig einerlei, ob einer weiße Socken, Jogginghosen mit Spermaflecken und Hauslatschen trägt. Nur bitte nicht aufstehen und durchs Zimmer wandern. Das war neulich beim französischen Kollegen zu amüsant, als durch eine geöffnete Tür die nackten Gliedmaßen seiner appetitlichen Pausenbeschäftigung zu sehen waren. Diese Stelle ist dort inzwischen anders besetzt; schade im Grunde.
Wie trinke ich jetzt am besten meinen Cognac, ohne dass es jemand sieht? Klar, kurz umschalten auf den Bildschirmhintergrund: »Oh, sorry, bin aus Versehen an die falsche Taste gekommen!«