Dr. Emma Langleve ist ebenso brillant wie stur. Als ihre Mutter stirbt, verbündet sie sich mit einem namenlosen Unbekannten. Gemeinsam wollen sie den Tod besiegen. Gabriel, Erzengel und himmlischer Sicherheitsberater, muss das unbedingt verhindern und mobilisiert Willi Lohmann, einen erfolglosen Schriftsteller. Himmel und Hölle planen und plotten,täuschen und tricksen. Mit dabei: eine Prostituierte auf der Suche nach dem Happyend, ein Taxifahrer mit Fortschrittsphobie, eine feministische Aktivistin, ein gutherziger Kleingärtnerund eine schöne Frau, die nicht weglaufen kann. Mitten in Dortmund, wo der Teufel in einem Bergwerk haust und Freunde Kumpel heißen, entscheidet sich die Sterblichkeit des Menschen.
»Wenn die Menschen unsterblich sind«, dozierte Gabriel, »wird alles zum Erliegen kommen. Die Menschen sind nur so erfinderisch, weil ihnen der Tod im Nacken sitzt. Ohne Tod kein Fortschritt. Und ohne Fortschritt wird nie einer den Warp-Antrieb entwickeln oder das Beamen oder sonst einen Science-Fiction-Kram, der uns von hier wegbringen könnte.
Wir würden für immer hier festsitzen, in dieser gottverdammten Milchstraße.«
Gabriel hielt inne. Ihm wurde klar, was er gesagt hatte. »Verzeihung Chef, ist mir so rausgerutscht. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.«
Der Chef lächelte. »Schon gut, kein Problem. Engagierte Engel, ich schätze das.« Er zuppelte an seinem Bart. »Da sollten wir wirklich was unternehmen.« Jetzt sah er Gabriel eindringlich an und hob einen göttlichen Zeigefinger. »Aber Gabriel, nur ein leichter Eingriff. Ein kleiner Schubser, mehr nicht. Und keine Gewalt! Nicht vergessen: Wir sind die Guten.«
Jochen Witte, Ruhrpottengel, Roman, Klappenbroschur, 271 SEITEN, ISBN 978-3-941935-50-1
Der Friedhof nannte sich Park, und das mit einem gewissen Recht. Überall auf dem Gelände waren in vielen Jahrzehnten mächtige Bäume herangewachsen, hatten sich beharrlich hineingewurzelt in die schwarze Erde, waren stärker geworden mit jedem Jahr. Die Straße, die eine Seite des Geländes begrenzte, trug stolz seinen Namen: Am Ostpark. Als kleines Mädchen hatte Emma gedacht, der Park hieße Park, weil dort Bäume parkten. Aber die Emma von heute wusste es besser: Der Park hieß Park, weil er nicht Friedhof heißen wollte.Emma ging schnell, es tat gut, sich zu bewegen. Die Muskeln in ihren Beinen jubelten, erfreut über die Arbeit, die sie verrichten durften. Strecken, ballen, strecken, ballen. Weiter, immer weiter. Selbst im Park Kreise zu gehen, war besser als der rostige Stillstand. Das Sitzen, das Hocken am Bett ihrer Mutter, das Warten und das Bangen. Muskeln wollten sich bewegen, Muskeln, die sich nicht bewegten, waren nutzlos. Genauso nutzlos wie Ärztinnen, die nicht helfen konnten. Ärztinnen, die bloß die Schmerzen linderten, mit denen der Krebs sich durch den Körper wühlte. Ein Brustkrebs, der wiedergekommen war, der sich nur versteckt hatte und sich jetzt durch die Organe fraß. Emmas Blick glitt über die Grabsteine, während sie das Alter der Verstorbenen berechnete. Was wohl die Toten denken würden, wenn man ihre Mutter Maria zu ihnen herabließ? Siebenundfünfzig, mehr hatte die Neue nicht geschafft? Nicht einmal Enkelkinder? Mit ihrer Tochter, der machtlosen Ärztin, endete die Familie. Langleve, was für ein Name, keine starb früher. Maria stände weit unten in der Rangordnung der Toten. Emma beendete ihre Parkrunde und näherte sich dem Ausgang. Das Hospiz, in dem ihre Mutter die letzten Tage verbrachte, lag auf der anderen Straßenseite. Emma wollte anwesend sein in der kurzen Zeit, die ihre Mutter bei Bewusstsein war. Maria stand unter starken Schmerzmitteln. Der Körper war schwach und wurde durch die Medikamente zusätzlich ermüdet. Sie hatte schon mehrere Stunden geschlafen an diesem Tag und würde bald wieder aufwachen. Emma kannte die Dosierung und die Wirkung der Medikamente. Als ihre Mutter in das Hospiz umgezogen war – Maria bezeichnete es als Umzug, als sei es ein gewöhnlicher, durch freien Entschluss herbeigeführter Wechsel des Wohnortes – da hatte Emma als Ärztin darauf bestanden, die Betreuung ihrer Mutterselbst zu übernehmen. Das Hospiz hatte keine Einwände vorgebracht. Dr. Emma Langleve war eine ausgezeichneteÄrztin. Man kannte ihre Arbeiten zu den genetischen Ursachen der Krebserkrankungen und schätzte die Unterstützung. Das Hospiz war ein kleiner zweigeschossiger Bau, dem der Architekt einen auffällig breiten Dachüberstand verpasst hatte, unter welchen Emma jetzt flüchtete, als ein Schauer sich heftig und unvermittelt über der Gegend ausgoss. Emma schüttelte die Nässe aus dem Haar und betrat das Gebäude. Der Flur war mit hellem Holz ausgelegt, die Wände in warmen Pastelltönen gestrichen, die Bilder an den Wänden zeigten Motive der Stadt. Sie klopfte leise an die Tür und betrat das Zimmer. Auch hier herrschte moderne Eleganz aus Holz und Wärme. Nur die bis in alle Details behindertengerechte Ausstattung und ein leichter Geruch nach Desinfektionsmittel verrieten, dass man sich nicht in einem Hotelzimmer befand. Man könnte sich wohlfühlen in dieser Umgebung. Wenn schon sterben, dann in Pastell, dachte Emma. Die Augen ihrer Mutter waren geschlossen, sie atmete ruhig und lautlos. Emma setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und betrachtete sie. Maria sah anders aus. Die Krankheit hatte die Rundungen abgenagt und sie schlank und seltsam verjüngt zurückgelassen. Das Leben endete irgendwann, so war das eben. So war es schon immer und so würde es immer sein. Warum konnte sie als Ärztin diese Tatsache nicht akzeptieren? Warum empfand Emma den Krebs ihrer Mutter als persönliche Niederlage, die ein mächtiger und unfair kämpfender Gegner ihr zufügte? Emma musste an ihre Oma denken, die vor vielen Jahren im Krankenhaus gestorben war, an Schläuchen und Kabeln hängend, die zu Maschinen führten, die wieder an Kabeln hingen, die in der Wand steckten. Die Maschinen hatten teuer ausgesehen und kompliziert: ein Gerät wie ein Blasebalg und ein Bildschirm mit Linien und vielen Schaltern und Lampen. Emma hatte so etwas noch nie gesehen, obwohl sie schon in die Schule ging. Sie war nicht mehr klein, aber auch noch nicht groß, eher so mittel. Sie war schon acht und alle sagten immer, sie sei verdammt schlau für ihr Alter. Aber mit acht hatte man sowas noch nicht gesehen. Und mit acht konnte man auch nicht alles verstehen, das kam erst später. Emma hatte sich das Verstehen immer wie eine geheimnisvolle Erleuchtung vorgestellt, die eben kam, wenn man alt genug dazu war. Dann würde man plötzlich begreifen, wie alles zusammenhing. Dann wäre man erwachsen. Wenn man zu jung erleuchtet wurde, konnten einem die Sicherungen durchbrennen. Einmal, als die Kaffeemaschine lief und Mutter den Staubsauger anstellte, da gab es einen lauten Knall und alles stand still. Damals hatte sie den Ausdruck zum ersten Mal gehört: Jetzt ist die Sicherung durchgebrannt. Wenn einem wegen vorzeitiger Erleuchtung die Sicherungen durchbrannten, ob es dann auch ein bisschen stank, so wie damals im Sicherungsschrank, und ob einem Rauch aus den Ohren käme? Irgendwann hatte Oma aufgehört, zu atmen, und die Ärzte hatten die Maschinen abgestellt. Oma sei jetzt an einem besseren Ort, hatte Maria gesagt. Aber Emma erschien der Ort hier gar nicht so schlecht. Nicht das Krankenhaus, sondern eher so die Welt als Ganzes. Und wenn Oma wirklich an einen besseren Ort gegangen war, warum hatten sich alle so dagegen gewehrt? Warum die ganzen Maschinen, nur um zu verhindern, dass Oma an einen besseren Ort kam? Irgendetwas stimmte da nicht.