Die Kathedrale
Das Zentrum der riesengroßen Stadt war quirlig, voller Lärm und Staub, mit stetig wachsendem Verkehr, der rasant und unerbittlich das Überqueren einer Straße zum Abenteuer geraten ließ. Die heiße Sonne prallte auf die Dächer, unter denen die Vergangenheit brütete. Fassaden, schmutzig gelb, verschnörkelt oft, die Häuser, hoch, verschachtelt, kaum frische Farbe, aber dadurch Illustration einer vergehenden Ära.
Herrschaftliches, dem auf Jahrzehnte die Macht entzogen war, fand sich neben Plattem, zweckhaft Modernem, berichtend von gebrochener Geschichte.
»Da drüben, diese prachtvolle Kathedrale, wurde vom gleichen Architekten geplant, der das GUM in Moskau entworfen hat, sie wurde aber erst Anfang des letzten Jahrhunderts fertig und ist die zweitgrößte orthodoxe Kirche auf dem Balkan.« Der Respekt meiner Erklärerin war sichtbar. Eine verlockende Frau, die tief ruhte in der Größe der Vergangenheit ihres Volkes und die stolz darauf war, zu denen zu gehören, die die Schriftzeichen der neuen Zeit schwungvoll zu schreiben begonnen hatten. Sie war Unternehmerin, gekleidet im Businesslook, wie er vor Jahren der Mode entsprochen hatte, aber hier herausstach aus dem Grau einheitlicher Alltagskleidung. Sie wirkte elegant, nichts störte die Harmonie und ein edel wirkender Hut zierte ihren Kopf. Niemand sonst trug einen, am helllichten Tag, in dieser Stadt. Sie war ein Mensch, wie mir viele begegnet waren in diesen Jahren nach dem Fall eiserner Mauern in Europa. Intelligent, gebildet, aktiv und erfüllt von unbändiger Energie, endlich das umzusetzen, was die eigenen Gedanken hervorgebracht hatten. Im Rausch einer Freiheit, die es in späteren Jahren so nicht mehr geben würde, weil die aus den Trümmern alter Ideologien entstandene Bürokratie, sich zu neuer Macht aufschwingen würde, intriganter und einflussreicher als je zuvor. Doch heute gehörte sie zu den Siegerinnen, den Vorreitern einer neuen, vernunftbegabten Zeit, die kühn in das Vakuum der Macht vorstießen und in die Hand nahmen, was zu gestalten sie sich vorgenommen hatten. Ich fand sie imponierend und voller Charme und freute mich, an ihrer Seite eine Welt zu entdecken, die mir vorher verschlossen war und die sich so gravierend unterschied, von dem, was Deutschland, Italien, Österreich oder Portugal ausmachte, und rein gar nichts zu tun hatte mit Staatsgebilden wie Großbritannien sowie der immer noch neuen Welt in Übersee. Wir überquerten die Straße und den weitläufigen Platz, auf dem damals kaum ein Auto parkte und schritten über einige Stufen zum Eingang, durch drei imposante steinerne Bögen, in der Mitte von zwei Säulen gestützt. Das Bild der Dreierbögen tauchte am ganzen Bauwerk immer wieder auf, zwischen kupfergrünen und goldenen Kuppeln – neobyzantinische Gewalt, eindrucksvoll und doch verspielt. Drinnen, eine Welt aus Säulen, Nischen, Schreinen mit Gemälden, Ikonen, riesigen Lüstern und direkt unter der riesenhaften Hauptkuppel, in der Mitte des Bodens aus kreisförmig angeordneten, quadratischen, wechselfarbigen Fliesen, ein großer Stern. »Stellen Sie sich auf diesen Platz!«, sagte meine Begleiterin, »aber halten Sie sich an mir fest.«