Man kann an allem verzweifeln. Man kann dem Wahnsinn der Krise aber auch mit einem Augenzwinkern begegnen, weil es eine legitime Möglichkeit ist, das Unmögliche zu fassen. Mark Jischinski ist ein Mensch, der dieser Krise mit Phantasie entgegentritt. Er schreibt Geschichten, die den Raum zwischen Illusion und Desillusion hoffnungsvoll und nicht immer ganz ernst gemeint illuminieren. Ein Augenzwinkern, das die vermeintliche Aussichtslosigkeit dieser Tage wieder mit Weitblick füllt.
„Wir Menschen bildeten überall auf der Erde eine polyfragile Gesellschaft, die nur deshalb das Gefühl hatte, sicher zu stehen, weil sie auf den Rissen der Bruchstellen stand. Nicht beruhigend, aber mit etwas Halt.“
„Wir leben in Zeiten intellektueller Obdachlosigkeit. Deshalb wird jeder zum Baumeister seines eigenen gedanklichen Luftschlosses mit einem Fundament aus Angst, Wänden aus falscher Hoffnung, mit Fenstern, durch die man sehr viel, aber keine Zukunft sieht und mit einem Dach, das vor allem Ähnlichkeit mit einem Sargdeckel hat.“
Im Wechselspiel zwischen der Sehnsucht nach Sicherheit und dem Glauben an Unsterblichkeit reiben sich die Menschen in der Unendlichkeit der Nachrichten auf, werden unruhig, wenn sie nicht auf dem aktuellen Stand sind und verzweifeln, wenn sie die Lücke geschlossen haben. Was ist Wahrheit, was sind Fake-News? Wann fängt das neue Leben an, wo bleibt die Normalität? Was kommt nach Corona? Wie viel Digitalisierung wird uns bevorstehen, wie viel analoges und echtes Leben bleibt auf der Strecke? Bei alledem sollten wir unseren Humor nicht verlieren. Er hilft uns dabei, diese Krise zu meistern und die vielen äußeren Einflüsse zu bewältigen, die wir nicht ändern können. Trotzdem wird es in manchen Geschichten ernst. Denn wenn es um Leben und Tod geht, ist Schluss mit lustig. Dabei fängt für den Teufel der Spaß gerade erst an.
Mark Jischinski, TASCHENBUCH, 184 SEITEN, ISBN 978-3-941935-90-7
Bitte Anstand halten!
Es gab eine Zeit, zu der man der Überzeugung war, dass Schulen und Universitäten nicht halb so gut waren, wie die schlechtesten Kaffeehäuser. Ich kenne ein paar Relikte aus diesen Tagen. Abgewetzte Parkettböden, auf denen sich die Laufwege der Servicekräfte mit grauen Flecken verewigten. Siebträgermaschinen, die mit Dampf und Druck den besten Kaffee produzierten. Gekühlte Glasvitrinen, in denen Sacher- und Sahnetorten standen, Baiser und Biskuit, Schwarzwälder Kirsch und Buttercreme. Gedämpftes Ge-murmel der Gäste, die spitz gezischte Ermahnung einer Mutter, die das zu laute Kind mäßigte. Und über allem der schönste Klangteppich – das Rascheln der Tageszeitungen, die wir an eine Holzleiste geklemmt und an die Haken neben der Tür gehängt hatten, bevor sie vom interessierten Publikum gelesen wurden. Wir führten die kleinen Lokalblätter, aber auch die überregionalen Zeitungen. Für den perfekten Beginn des Tages der Gäste war uns nichts zu teuer.
Das bittersüße Aroma von Kaffee lieferte sich ein ambrosisches Duell mit der Verführung, die warme Croissants und Brötchen durch den Raum gleiten ließen. Aromatische Butter, Marmelade, Schmand und Schokocremes – von allem immer nur die beste Ware – zogen unsere Kunden an. Frisch gepresster Orangensaft, Eier in diversen Varianten und, wer es gern mochte, zum Frühstück bereits Kuchen und Torte. Zum Abschluss ein Espresso oder Cappuccino. Ich sehe es heute jeden Morgen vor mir und habe eine Erinnerung all der Gerüche in meiner Nase.
Alles vorbei und lange her. Erste, zweite, dritte Welle, irgendwann fließende Übergänge bis hin zur Dauerwelle. Keine Erholung, keine neue Freiheit, keine Normalität, wie wir sie einst kannten. Wir sind gestrandet in einem Leben, das nur deshalb noch zu ertragen ist, weil die meisten von uns vergessen haben, was das Gute und Lebenswerte ist. Weil sie den Geruch von Kaffee und Croissants in einem Café am Morgen genauso wenig kennen, wie das Geraschel der Zeitungsleser.
An Tisch 7 am Fenster saß jeden Tag ab acht Uhr der Grund, warum sich das Aufstehen noch mehr lohnte, als die Wohlfühlatmosphäre des Cafés. Isabell trank einen Kaffee, dazu ein Glas Wasser. Sie aß ein gekochtes Ei, zwei Brötchen, etwas Käse, Gurken und Tomaten. Ab und zu durchbrach sie ihre Routine mit Marmelade, die sie auf die letzte Hälfte schmierte. Wenn ich an ihren Tisch trat, um das Ei zu bringen, oder nach ihren Wünschen zu fragen, lächelte sie breit mit allen Zähnen und schenkte mir damit den Sinn des Tages.
»Vielen Dank, ich bin wunschlos glücklich«, sagte sie oft. Beruflich war ihre Erwiderung eine perfekte Replik, für mein Herz eine Katastrophe.
»Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen«, sagte ich oder gebrauchte eine andere unverfängliche Floskel. Sie aber saß nur da, lächelte breit und strahlte mich an. Ihre Kleidung kam direkt aus dem Olymp der ästhetischen Widersprüchlichkeit, sie trug nicht Avantgarde, sie war Mode 4.0, wie man heute sagen würde.
Ich stellte mir Isabell immer vor wie eine Künstlerin aus den 20er Jahren. Selbstbewusst auf einem Stuhl thronend, dem Patriarchat trotzend, glamourös mit einer chromfarbenen Zigarettenspitze im Mund und wenn sie nicht rauchte, dieses, ihre viel zu weißen Zähne zeigende Lachen. Nie affektiert oder gespielt, immer echt und die Stimmung im ganzen Café hebend.
Ich kenne diesen Raum sogar noch, als er von den Rauchschwaden der Zigarren und Zigaretten durchzogen wurde. Als ein dichter Schleier über den Tischen hing und ich diesen Gestank nach Feierabend nie aus den Sachen bekam.
Alles vorbei und lange her. Isabell sitzt nicht an Tisch 7, geraucht wird hier seit Ewigkeiten nicht mehr und Zeitungen werden kaum noch gedruckt, sondern im Wettlauf um die beste Schlagzeile im Stundentakt online und offline gestellt. Nichts von der früheren Gemütlichkeit wird jemals wiederkommen und die Akzeptanz der Rahmenbedingungen durch die Gäste von heute zeigt mir deutlich, dass die Gewöhnung die stärkste Kraft im Überlebenskampf ist. Ich gebe ihnen nicht die Schuld für mein verlorenes Paradies. Sie können nicht vermissen, was sie nicht kennen und wenn sie etwas nur oft genug wiederholen, wird es ihre Normalität, die sie am Ende sogar lieben. Das Heute schmerzt nur die, die sich an das Gestern erinnern.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte mich Isabell an einem der letzten Tage, bevor wir das erste Mal schließen mussten.
Ich nickte und trat noch näher an ihren Tisch. Sie wies mit einer Geste auf den Platz ihr gegenüber und ich setzte mich.
»Was meinen Sie, wo das alles hinführt?«, fragte sie, stützte ihr Kinn auf beide Hände und richtete ihre blaugrauen Augen auf mich.
»Am Ende des Sommers ist alles vorbei«, sagte ich.
»Haben Sie ein Getränk hinter der Bar, das ich noch nicht kenne? Oder woher nehmen Sie diesen Optimismus?«
Das Licht sieht immer der, der ihm direkt gegenübersitzt, hätte ich ihr am liebsten gesagt. Mit einer Isabell am Tisch musste es eine Zukunft geben, eine lebenswerte noch dazu.
»Vielleicht kann ich mir nur nicht vorstellen, dass es einen zweiten Herbst wie im letzten Jahr gibt. Es ist ein Wunder, dass wir noch da sind.«
»Qualität wird sich immer behaupten und die Menschen sterben lieber für Ihre Torten, als an einem Virus, glauben Sie mir. Ich jedenfalls würde mich in meiner letzten Stunde zu Ihnen schleppen und einen Kaffee mit einem Stück Torte bestellen.«
»Und ich würde Ihnen auch im härtesten Lockdown und unter Androhung staatlicher Repressalien, Freiheitsentzug und Todesstrafe öffnen«, wagte ich mich vor. »Ich muss mich entschuldigen, ein Gast ruft an Tisch 19.«