Hans Kleemann, Jeder einmal in Berlin, Romanminiatur, Klappenbroschur, 146 SEITEN, ISBN 978-3-941935-97-6
Kapitel I
Im Grunde bin ich einzig und allein wegen Mara noch hier, obwohl ich nicht recht weiß, ob das ein Glück ist. Nie jedoch werde ich im Zweifel darüber sein, dass die Zeit mit ihr ein Glück war, ein ganz undenkbares sogar, und egal wie unerträglich das Alleinsein derzeit ist, wie trüb die momentanen Aussichten auch immer sein mögen, stets gibt es Erinnerungen, die durch die Schwärze der Gefühle schimmern. Ein Trost ist das freilich nicht, aber manches wird klarer mit der Zeit, nach einer übersteigerten Liebe, der großen Oper zweier Irrlichter, einem Ende quasi en pasant, der Beginn zufällig. Wir kamen aus einem unbestimmten irgendwo, prallten aufeinander, schlugen Funken und verglühen nun wieder im irgendwo, so ziemlich aus der Bahn geworfen.
Aus der Bahn geworfen war ich aber wahrscheinlich von Anbeginn und also musste ich nach zwanzig Jahren des ziellosen, doch keinesfalls beunruhigten Suchens nach einem Stück Leben, das sich als tragfähig für weitere Schritte erwies, in Berlin landen, das, wie ich hoffte, vor dem endgültigen Scheitern wenigstens mit einer rauschenden Party aufwartete. Anfang August war das Scheitern bereits relativ absehbar, die Party jedoch schien vergessen worden zu sein. Seit zwei Monaten war ich hier, hatte ein Zimmer gefunden, etwas, das man wohl »Job« nennen muss, der wenigstens bei möglichst geringem Arbeitsaufwand halbwegs mein Dasein sicherte, was ja alles recht schön ist, doch war ich das erste Mal in meinem Leben nicht bloß einsam, sondern, wirklich allein. Da ich mit mir wenig anzufangen wusste, ging ich zwar viel spazieren, allerdings nirgendwo hin. Folglich traf ich niemanden und jene, die ich traf, schienen mir kein Umgang, denn ich bildete mir damals ein, ein Dichter zu sein, obwohl ich nie eine Zeile schrieb, gar nicht gewusst hätte worüber, und ohnehin kam es nicht darauf an, Dichter, wollte ich glauben, war man eben. Eines Tages käme der besondere Moment, aus dem ganz mühelos der besondere Roman erwachsen würde, mit dessen Tantiemen der Rest des Lebens vergoldet und aristokratisch faul zu überstehen wäre. Folglich hatte ich damals überhaupt keine Freunde, kaum Bekannte, und selbstverständlich lag es fern, den Fehler in der eigenen Borniertheit zu suchen, die man schwer oder zumindest ungern wahrnimmt, sondern Berlin war eben nicht meine Stadt. Gedanken an Wien stellten sich ein, verstärkt, als ich mir verdeutlichte, wie es wohl in Rom sein würde, ohne italienisch zu sprechen, oder in Paris ohne Maßanzug.
Die Gedanken an Umzug verflogen alsbald, der Anzug schwirrte mir weiter im Kopf herum. Der erst würde mich zum Schriftsteller machen. Ich ging aus einen zu kaufen, mit dem ich seither einigermaßen verwachsen bin, denn dieser Anzug hat mich zwar nicht zum Schriftsteller gemacht, doch eigentlich erst zu Mara geführt. Denn als endlich der perfekte schwarze, elegant geschnittene Anzug gefunden war, war ich nach dem Kauf naturgemäß derart pleite, dass ich ihn zum Einstand nicht einmal in eine halbwegs nennenswerte Bar ausführen konnte. Jedoch entsann ich mich eines Plakats, das mir ein paar Tage zuvor aufgefallen war: in den Weser Lichtspielen, die mir bis dahin, wie so ziemlich dreiviertel vom schönen Berlin, unbekannt waren, lief an diesem Abend »Casablanca«, ein überaus geeigneter Film für eine Anzugpremiere.
Wie überall kam ich auch am Kino viel zu früh an, und da es ebenso Bar wie Kino war, hätte ich Gelegenheit zu ein, zwei erfreulich bezahlbaren Drinks gehabt, die trotzdem zu teuer waren, als dass sie für mich erschwinglich gewesen wären. Außerdem war niemand anwesend, auch nicht hinter dem Tresen. Darum setzte ich mich in ein Eck der leeren Bar, tat als ob ich lesen würde und sah mich ganz ungeniert um. Es war hier wirklich sehr gemütlich, alles in dunklem Holz gehalten, dem Generationen von Rauchern zusätzlich Patina verliehen hatten, ebenso dunkel die Stühle, und wären die drei bodentiefen Fenster nicht gewesen, die den Raum mit von der Straße her kastaniengedämpftem Licht erfüllten, man hätte untertags bereits größere Beleuchtung anschalten müssen, was natürlich seinen eigenen Reiz gehabt hätte. Im Ganzen war es ein eher unwirklicher Ort, und ein Nostalgiker hätte vermutlich verzückt ausgerufen: »Nein, dass es so etwas noch gibt« und seine Euphorie hätte ihn die allgegenwärtigen Stilbrüche übersehen lassen, die nun wieder mich erfreuten. Die Weser Lichtspiele warben damit, das älteste erhaltene Kino Berlins zu sein, und gaben sich entsprechend geflissentlich den Anschein, hier sei seit den Zwanzigern die Zeit stehen geblieben, was die Betreiber keineswegs davon abhielt, eine Jukebox neben ein Grammophon zu stellen, neben Bildern von Marlene Dietrich, Blandine Ebinger und Claire Waldoff eines von Barbara Streisand zu hängen (was es erstaunlicherweise dennoch nicht zur Schwulenbar machte) und die wirklich phantastischen original Deckenlampen aus den zwanziger Jahren mit Stehlampen eines schwedischen Möbelhauses zu konfrontieren. Gerade diese Stilbrüche bewiesen Charme, besonders da sie wirklich herausstachen, denn ansonsten war der Raum eher schlicht gehalten, die üblichen dürren schwarzen Kaffeehausstühle, die klassische, einigermaßen sortierte Bar und im Hintergrund eine große schmucklose Flügeltür, die zum Kinosaal und den Toiletten führte.
Eine kleine Zeit saß ich da, sah mich um, träumte ein wenig vor mich hin und bemerkte nicht die Kellnerin, Barfrau, Kassiererin und Vorführerin in Persona, die jetzt wiederum mich beobachtete, was durch ein sehr sanftes Lächeln gemildert wurde, welches sich zum Grinsen weitete, als ich endlich hochsah und sie bemerkte. Sie fragte, ob sie mir helfen könne, und ich sagte ja, ich bräuchte eine Wohnung, einen vernünftigen Job und Freunde. Darauf hörte ich zum ersten Mal dieses unvergleichliche Maralachen, eine Mischung aus herausplatzender Freude und deren sofortiger Rücknahme, ein erster hoher, lauter Lacher, dem bloß ein kleiner, verschluckter folgt, der schon fast wie ein Seufzer klingt. Sie lachte also, sah mich flüchtig an, was durchaus als Musterung zu erkennen war, dann wieder ein freundlicherer, bereits neugieriger Blick, der zu sagen schien, dass sie mit Wohnung und Job zwar nicht dienen könne, sich jedoch in Sachen Freunde vielleicht etwas richten ließe. Wir fanden bald in ein dezentes Gespräch: woher, wohin und was und wie – das Übliche, nicht gerade Personalien, aber so ziemlich. Folgendes erfuhr ich von ihr: Sie hieß Mara, war fünfundzwanzig, lebte seit drei Jahren in Berlin und studierte Architektur. Sie kam ungefähr aus derselben Gegend wie ich, was eher südlich ist, und bei allem Weiteren wurde rasch klar: entweder wusste sie wirklich nicht, was sie sich vom Leben erhoffen sollte, oder sie hielt sich bewusst sämtliche Optionen offen. Es wirkte, als hätte sie Interesse für alles, vor allem für mehr oder weniger ausgefallenes, sprach mit Begeisterung über Dinge, von denen ich bisher nie etwas gehört hatte und von denen schwer zu sagen war, ob es sich um den Namen einer Band, einen Buchtitel oder eine Art afrikanischen Tanzes handelte. Es interessierte mich auch gar nicht übermäßig, wovon sie sprach, allein wie sie davon berichtete, schwärmte, kündete, riss mich hin. Ihre Augen leuchteten dabei, kleine Fältchen um ihre Mundwinkel spannten und entspannten sich, tanzten im Rhythmus diverser Hymnen über Diverses.
Dann plötzlich fiel sie aus der Rolle, erinnerte sich ihrer Aufgaben und fragte mitten im Satz: »Willst Du was trinken oder wartest Du auf den Film?«