CHELSEA, 2050
Mein Magen rumorte, als hätte ich Steine gegessen. Und das, obwohl ich mich durch die Zeit gebeamt hatte! Wie war das nur möglich? Spielte uns jemand einen fiesen Streich? Ich schaute durch die U-Bahn und suchte nach einer versteckten Kamera. Nein, nichts. Ich musterte Dad. Ein »Das ist doch auf deinem Mist gewachsen, oder?« konnte ich mir sparen, denn die kreidebleiche Farbe seines Gesichtes versicherte mir, dass auch er keine Ahnung hatte, wie uns soeben geschah. Der Mann mit der Agenda, die uns das Jahr offenbarte, in welchem wir uns befanden, lächelte mich etwas verwirrt an. Ich schuldete ihm, glaube ich, eine Antwort. Die U-Bahn hielt und ich stürmte aus dem Abteil. Ich brauchte frische Luft. Verzweifelt nach Klarheit suchend, hetzte ich die Treppe hoch. Entgegen kam mir niemand. Nur mein Vater sprintete mir hinterher. Sonst hielt sich keine Menschenseele in der U-Bahn-Station auf. Endlich oben angelangt, atmete ich tief ein. Das träumst du nur, Chelsea, das ist ein fieser Traum, flüsterte mir mein inneres Ich beruhigend zu. Es wirkte nicht, denn ein Gefühl sagte mir, dass all das real war. Wie ein Hund hechelnd, blieb mein Vater vor mir stehen und stützte sich mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab. Dass er dermaßen schlecht in Form war, machte ihn schon fast niedlich. Fast. »Was machen wir jetzt?«, fragte er, als hätte ich eine Antwort auf die Frage. Ich konnte nicht anders und prustete los. In diesem Moment hätte ich nicht sagen können, ob ich wahnsinnig wurde oder mein Lachen eine eigene Art von Stressbewältigung darstellte. Dad schaute mich verwirrt an. Recht hatte er. Ich täte dasselbe. Nachdem sich mein leichter Anflug von Panik beruhigt hatte, fiel mir erst das Schild der U-Bahn-Station auf, bei welcher wir uns befanden und ich brach erneut in nahezu hysterisches Lachen aus. South Kensington. Eine der meist genutzten U-Bahn-Stationen Londons. Von hier aus kam man zu allen wichtigen Museen und die Haltestelle galt als Verkehrsknotenpunkt für U-Bahnen in den Süden der Metropole. South Kensington war legendär. Und menschenleer. Es schien mir unmöglich und dennoch war es so. Viel zu spät, doch erst jetzt mental dazu fähig, antwortete ich auf Dads Frage:
»Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer.«
»Klingt nach einem prächtigen Plan«, witzelte er.
Für ihn war das natürlich alles halb so tragisch. Offenbar hatte er sein großes Ziel auch erreicht. Die Welt in Schutt und Asche zu legen war ihm souverän gelungen. Dennoch wollte ich fixe Beweise, dass wir uns tatsächlich in der Zukunft befanden. Meine Ratio traute dem Ganzen nicht.
»Wir suchen nach Anhaltspunkten, ob wir wirklich im Jahr 2050 sind«, kommandierte ich.
Er zog die Augenbrauen hoch. Mister King of the Underworld war es nicht gewohnt, dass man ihm etwas befahl. Gekonnt ignorierte ich seine Reaktion und suchte die U-Bahn-Station nach Zeitungsständern ab. Hier sah es grauenvoll aus. Überall lagen zerfledderte Zeitungen am Boden, die Mülleimer quollen über und dementsprechend unschön roch es. Die Anzeige, auf welcher normaler weise die Wartezeiten für die einfahrenden Tubes verkündet wurden, flackerte wie in einem dieser Horrorfilme. Horrid kam mir das Ganze auch vor. Neben der Treppe konnte ich einen Zeitungsständer mit ein paar einsamen Ausgaben der Daily Mail erhaschen. Hastig
vor Neugier sprintete ich zu den Zeitungen und erkannte das Datum: 21. Juni 2027. Ich schluckte aus zweierlei Gründen. Erstens bestätigte das unseren Aufenthalt in der Zukunft und zweitens bedeutete das, dass dieses leergefegte Dasein seit über 20 Jahren herrschte. Mir stellte es die Härchen auf und ich packte entschlossen die Zeitung unter meinen Oberarm. Ich musste zum Elbenkreisel. Hoffentlich erfuhr ich so mehr über die Vergangenheit, die ich eigentlich noch nicht erlebt hatte. Mit einem genervten Blick lugte ich zu meinem Vater. Wohl oder übel musste ich ihn mitnehmen, er war mein einziger Kumpan. Widerwillig schwenkte ich den Kopf zum Exit der Tube Station und wollte ihm damit bedeuten, mitzukommen. Er folgte und ich schlug den Weg zum Elbenkreisel ein, um mehr über all das hier zu erfahren. Auf dem großen Platz neben der South Kensington Station war es weniger menschenleer als in der Tube selbst. Nichts im Vergleich zu damals, doch immerhin hielten sich um die zehn Leute auf dem Platz auf. Schnell erkannte ich, dass ihr Aufenthalt nichts mit nettem Flanieren zu tun hatte. Die Cafés waren geschlossen, auch meine Lieblingscreperia, welche ich einst mit Rick und Adam besuchte. Verstaubte Fensterläden oder gar eingeschlagene Fenster präsentierten uns die Realität im Jahr 2050. Die paar Menschen am Platz rangelten auf den Straßen und beschimpften sich derb. Ich riss erschrocken die Augen auf, als einer sein Messer zückte und es dem anderen in den Brustkorb rammte.