Prolog
Schloss Plön. Napola Plön. 1938.
Am späten Abend.
Das imposante Schloss war schon von Weitem zu sehen. Der Bau mit seiner strahlend weißen Fassade und den vier Türmen war hell erleuchtet. Auf dem Dachfirst der fünfgeschossigen Anlage wehte die Hakenkreuzfahne. Ein Symbol der Macht, das alles um sich herum einschloss. Auch die breite hölzerne Treppe, die von der Anhöhe zum Plöner See hinunterführte. Direkt am Ufer lag, etwas versteckt zwischen hohen Sträuchern und Bäumen, ein kleines Bootshaus. Auf dem schmalen Anlegesteg saß ein Jungmann im Braunhemd und knielangen dunklen Lederhosen. Seine blonden Haare waren kurz geschnitten, was seine lange Gestalt betonte. Er wirkte muskulös, ohne kräftig zu erscheinen. Nur seine kindlichen Gesichtszüge verrieten sein junges Alter. Er starrte auf das fast schwarze Wasser. Die vielen großen Außenwandlampen des Schlosses tauchten die Umgebung in ein diffuses Licht, sodass der See silbern funkelte. Manche Stellen, auf die der Vollmond schien, schimmerten in einem warmen Orange. Kein Laut war zu vernehmen. Ab und zu zog der Junge den Rotz hoch, der ihm aus der Nase lief. Schließlich bewegte er seinen Oberkörper vor und zurück, aber die schrecklichen Bilder in seinem Kopf wollten nicht weichen. Ständig sah er die schmächtige Gestalt seines Kameraden, seines Zimmergenossen, seines besten Freundes, unnatürlich verdreht auf den Pflastersteinen des Innenhofs liegen. Eine Blutlache, die immer größer wurde, breitete sich unter seinem Kopf aus. Als Lehrer und Erzieher zu dem Toten eilten und den Körper herumdrehten, blickten sie in ein zerstörtes Gesicht. Bei der Erinnerung musste er würgen. Alfred Gutzeit, so hieß sein Freund. Sie waren ein Team beim Segeln und sie kämpften beim Boxen gegeneinander. Er mochte ihn, obwohl sie so unterschiedlich waren, oder vielleicht gerade deshalb.
Er hatte alles darangesetzt, auf die Eliteschule der Nationalsozialisten zu kommen. Das ist meine Chance, sagte er sich. Eine solide Ausbildung und dann die guten Kontakte für die Zukunft. Er wollte später einmal in einem großdeutschen Reich eine führende Rolle einnehmen. Seine Eltern sahen das Ansinnen ihres Sohnes mit Sorge. Sie hatten sich der Ideologie Hitlers nicht verschrieben. Aber sie wollten ein besseres Leben für ihn, raus aus der Armut, dem Hunger, den Entbehrungen und vor allem raus aus der Schufterei in der Fabrik, deren körperliche Strapazen die Menschen früher altern und sterben ließen. Sie hatten schweren Herzens zugestimmt: Nun war ihr Sohn, Julius Kleinert, Kadett an der ersten nationalsozialistischen Erziehungsanstalt des Landes. Sein Freund Alfred hingegen war der Sohn eines Professors und kam aus ganz anderen Verhältnissen. Das merkte man ihm auch an. Nicht dass er überheblich wäre, ganz im Gegenteil, er war den anderen zugewandt, ein echter Kamerad.
Alfred hatte so etwas ... Julius neigte den Kopf und dachte nach. Etwas in sich Ruhendes. Etwas Gefestigtes. Auch wenn der Schulleiter unermüdlich betonte, dass auf einer Napola alle gleich seien und auch gleichbehandelt würden, unabhängig von ihrer Herkunft, und dass allein der Glaube an den Führer und die Opferbereitschaft für die Sache zählten, gab es eben doch Unterschiede. Er ballte die Faust. Am liebsten hätte er seine Wut, seine Trauer herausgebrüllt, doch er biss die Zähne zusammen. Das hatte er alles nicht gewollt.
Alfred hatte ihn einmal an einem Wochenende nach Hause eingeladen. Gutbürgerlich nannte man das wohl, nicht so ärmlich wie bei seinen Eltern. Der Vater von Alfred war eine imposante Persönlichkeit, durch und durch ein glühender Anhänger des Führers, der den ganzen Abend nur aus ›Mein Kampf‹ zitierte. Julius sah immer wieder zu Alfred hinüber, dem das Verhalten seines Vaters peinlich war. Alfred war ein Schöngeist, sein Vater ein pragmatischer Naturwissenschaftler, der die nationalistische Rassenlehre begeistert erläuterte. Auch Alfreds Mutter schien das prahlerische Getue ihres Mannes zuwider zu sein, doch sie hielt sich zurück. Nur wenn der Hausherr seinen Unmut über die fehlende Härte und Durchsetzungskraft seines Sohnes mit spitzen Bemerkungen kundtat, versuchte sie das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. So viel erkannte er. Sie saßen an einem stilvoll gedeckten Tisch mit Silberbesteck, feinem Porzellan und Stoffservietten. Das beeindruckte ihn, ebenso die alten Möbel und die vielen Gemälde an den Wänden. Zuvor hatte er einen Blick in das Arbeitszimmer von Alfreds Vater werfen dürfen. Regale bis unter die Decke, ein Buch reihte sich an das andere. So etwas hatte er noch nie gesehen. Seine Mutter hatte auf dem Nachttisch die Bibel liegen, das einzige Buch in seinem Zuhause. Etwas Sicherheit in dieser fremden Welt hatte ihm an dem Abend nur seine braune Uniform mit den blauen Epauletten der Napola Plön gegeben.
Es war schon nach Mitternacht und immer noch hockte Julius auf dem schmalen Steg, wohl wissend, dass es Ärger geben würde, wenn er so spät in der Nacht nicht auf der Stube war. Doch er brauchte Zeit für sich. Was hatte er getan? Er wusste es, doch er wollte es nicht wahrhaben. Nein, nein, sein Freund Alfred hatte ihn verraten, nicht er ihn. Die Bilder aus dem Duschraum schoben sich wieder vor sein inneres Auge. Er war machtlos dagegen. Hinter einem kleinen Vorsprung hatte er Alfred und einen anderen Jungmann gesehen, wie sie sich umarmten, sich küssten. Angewidert hatte er sich abgewandt, um sogleich wieder um die Ecke zu schauen. Das war abartig! Das war verboten! Das war einem Napolaner nicht würdig! Das musste er melden. Und dann war er einfach weggerannt.
Das war vor zwei Tagen gewesen. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Nach der schockierenden Entdeckung, die ihn zutiefst verstörte, hatte er sich an dieselbe Stelle wie heute zurückgezogen, hier glaubte er ungestört zu sein. Lange hatte er hier gesessen und in sich hineingehört. Warum war er nur so zornig, so wütend? Gefühle von solch einer Intensität hatte er noch nie verspürt. Nur langsam legte sich die Wut. Und dann nahm ihn ein anderes Gefühl gefangen: Eifersucht. Dass er Alfred mochte, hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung bemerkt. Sonst hätten sie auch nicht so viel gemeinsam unternommen, wären nicht ein Team geworden. Alfred hatte ihm Gedichte zum Lesen gegeben, die er selbst verfasst hatte. Von Lyrik verstand er nichts, aber die Gedichte von Alfred hatten ihm gefallen und ihn sogar berührt. Je mehr er sich die letzten Wochen in Erinnerung gerufen hatte, desto intensiver wurden die Empfindungen der Vertrautheit, der Nähe und ...
Er wollte und konnte seine Gefühle nicht näher benennen. Doch der Drang, seine Beobachtung melden zu müssen, war ständig stärker geworden, so sehr er ihn auch zu unterdrücken versuchte. Immer wieder dieselbe Frage: Sollte er es tun? Eine Stimme in ihm flehte: »Nein, er ist doch dein Freund.« Eine andere, lautere, befahl: »Mach es! Es ist deine Pflicht! Er ist deiner nicht würdig.«
Am Tag nach dem Erlebnis konnte er seinem Freund nicht in die Augen sehen. Alfred spürte die Verunsicherung und fragte ihn, was los sei. Er hatte sich gewunden und etwas von schlechter Laune gemurmelt.
Als Alfred ihn an der Schulter berührte, war das für ihn plötzlich ganz anders als sonst gewesen. Es tat gut und schmerzte zugleich. Die zweite Nacht war noch unerträglicher. Er träumte wild, wachte immer wieder schweißgebadet auf. Alfred lag im oberen Stockbett, kaum einen Meter von ihm entfernt. Er hörte ihn ruhig atmen. Die Wut, die Hilflosigkeit kamen wieder und das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Alfred hatte ihre Freundschaft verraten.
Mittags stand sein Entschluss fest. Für Julius gab es nur eine Möglichkeit, sein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen. Er musste Alfred melden, und er tat es. Kurz danach sah er aus dem Fenster des Klassenzimmers, wie Alfred und der andere Jungmann von Erziehern über den Innenhof abgeführt und in den Zellentrakt gebracht wurden. Sofort würden sie ihre Uniformen abgeben müssen, ebenso den Ehrendolch der Oberschüler mit der Gravur ›Mehr sein als scheinen‹. Sie würden der Anstalt verwiesen werden. War es nicht genau das, was er wollte? Auf dem Weg zum Hinterausgang des Schlosses befreite Alfred sich aus dem Griff seines Bewachers, lief in den dritten Stock und stürzte sich aus einem der Fenster. Lautes Geschrei schreckte Julius und seine Mitschüler auf. Sie rannten zu den Fenstern des Klassenzimmers und starrten in den Innenhof. Dort lag sein Freund. Julius war wie versteinert. Dann stürmte er los.
Er saß immer noch auf den Planken des Anlegestegs. Julius hatte gehofft, seine Gefühle für Alfred abtöten zu können, doch es wurde nur schlimmer.
Anklagend brüllte er: »Du Idiot!«
Einen solchen Schmerz und Verlust hatte er noch nie erlebt. Aber Schuld? Nein. Keine Schuld! Alfred hatte ihre Ideale verraten, die Gemeinschaft, den Führer und auch ihn. Vor allem ihn. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als seinen Freund in die Arme zu schließen und festzuhalten.