Artà – allein unter Mallorquinern
Artà. Die zahlreichen Stufen hinauf zur s’Almudaina d’Artà liegen durch die meterhohen Zypressen teilweise im Schatten, doch die Wärme beginnt sich schon jetzt auszubreiten. »Gut, dass ich so früh dran bin«, murmelt Sven und schaut die breite Steintreppe hinauf mit ihren 180 Stufen. Wenn diese Treppe geschafft ist, soll der Blick von der komplett erhaltenen Burganlage aus sensationell sein, sowohl über das Dorf Artà als auch über das grüne Massís d’Arta im Norden. Eine Stufe nach der anderen erklimmt er und hängt seinen Gedanken nach. In der mittäglichen Hitze wäre das bestimmt auch zu schaffen, aber mehr als unvernünftig, überlegt er. Die Mallorquiner wissen schon, warum sie so lange Siesta machen. Sven lächelt. Ein total anderer Rhythmus: Die Einheimischen stehen sehr früh auf, ein Cortado und vielleicht ein Stück Gebäck reichen ihnen vollkommen als Frühstück. Um zehn Uhr trifft man sich dann in einer Tapas-Bar zu einer ersten kleinen Mahlzeit. Während der Siesta, die schon um 13.00 Uhr beginnt und teilweise bis 16.00 Uhr dauert, isst man zu Mittag und hält ein Schläfchen. Dann wird weitergearbeitet und ab 21.00 Uhr zu Abend gegessen. Sven schüttelt den Kopf, als er daran denkt, wie die Touristen meist schon um 18.00 Uhr die Restaurants stürmen. Kaum hat er die letzte Stufe genommen, gelangt er durch eine weitere, diesmal schmalere Treppe in den breiten Hof der Anlage aus der Zeit der Mauren. Er nimmt einen wohltuend kühlen Wind wahr. Dann tritt er an die ein Meter dicken Einfassungsmauern des Plateaus heran, die ihm gerade bis zur Hüfte reichen, und schaut auf Artà. Er sieht helle, niedrige Häuser, die in sich verschachtelt sind, und kleine, verwinkelte Gassen. Ein wunderschöner Anblick, der die Urtümlichkeit dieses Ortes widerspiegelt. Sven glaubt, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie hier vor 100 Jahren gelebt wurde, als die Artanencs sich noch von Landwirtschaft, dem Textilhandwerk und der Korbflechterei ernährten. Erstaunlich, wie sie es geschafft haben, den urtümlichen Charakter des Dorfes zu erhalten und dennoch die Touristen anzulocken. Viele alte Stadthäuser sind saniert und die Fußgängerzone ist durch Restaurants und interessante Geschäfte belebt. Artà gilt als beliebtes Ausflugsziel, aber Massen an Besuchern gehören hier nicht zum Alltag. Nur dienstags, wenn Markt ist, soll es sehr voll sein, hat er gehört. Er wendet sich nach Norden und schaut auf das Bergmassiv. Der einzige Küstenort der Gemeinde ist das Fischerdorf Colònia de Sant Pere im Nordwesten, doch die Sicht ist von hier aus durch Hügel verdeckt. Schade, denkt er, dann sollte ich dort mal hinfahren. Er kramt die Karte von Mallorca aus seiner Umhängetasche. Die Ermita de Betlem wäre auch einen Ausflug wert, immerhin scheint da eine kleinere Straße hinzuführen, denn auf den neun Kilometer langen Fußmarsch von Artà dorthin hat er keine Lust. Auch die schönen Strände rund um Artà im Osten müsste er sich bald einmal ansehen, die sollen unberührt und noch völlig naturbelassen sein: Playa s’Arenalet, Cala Mitjana, Cala Torta, Cala Mesquida und die Cala Torta. Erst in Cala Agulla und Cala Rajada gibt es wieder touristische Hochburgen.
Er schaut auf seine Armbanduhr. Er hat noch genü-gend Zeit. Erst in zwei Stunden ist er mit seinem Freund Alejandro de Calderón im Restaurant Ca’n Jaume verabredet. Es soll etwas außerhalb des Stadtkerns liegen, aber nur wenige Straßen entfernt. Langsam geht er die Treppen hinunter und stellt belustigt fest: Runter geht besser als rauf. Er schlendert die langgestreckte Fußgängerpassage mit Kopfsteinpflaster entlang und schaut sich interessiert die vielen Läden an. Keine Souvenirläden, sondern Geschäfte, die sich die mallorquinische Lebensart auf die Fahnen geschrieben haben: mit mallorquinischen Möbeln, Taschen, Hemden, Kleidern und Gewürzen. Vor einem Geschäft sieht er mehrere Esel aus Korbgeflecht stehen. Einer reicht ihm bis zur Brust. Bei genauer Betrachtung erkennt Sven die Liebe des Kunsthandwerkers zum Detail: Die typischen Merkmale eines männlichen Esels sind nicht vergessen worden und amüsieren ihn. Sogar eine Galerie entdeckt er. Neugierig geht er hinein. Eine Dame vom Empfangstresen kommt auf ihn zu, der er mit einer Geste zu erkennen gibt, nur schauen zu wollen. Ein mallor-quinischer Künstler hat im vorderen Bereich eine Ausstellung, seine dreidimensionalen Objekte sind zu sehen: die Form der Insel Mallorca aus Blech oder Alu-minium gefräst, die Silhouette steht leicht von der Leinwand ab, die je nach Arbeit in unterschiedlichen Farben gehalten ist, mal in Blau, mal in Grün oder ebenfalls silberfarben. Sven geht zurück auf die Straße und betrachtet, während er weiterschlendert, die schönen renovierten alten Stadthäuser. Als er am Plaça del Conqueridor im Zentrum des Dorfes angekommen ist, lässt er seinen Blick schweifen. Der große Platz ist von Platanen gesäumt und lädt zum Verweilen ein. Er hat noch genügend Zeit für einen Cortado oder einen Cortado con Hielo. Also setzt er sich unter die Palmen auf die Außentertasse von La Confianza ...