Bolivianische Bauern
Früher trug er die Haare hennarot. Sie hingen strähnig von seinem Kopf, die Spitzen wippten auf meinem Rücken oder in meinem Gesicht. Heute trägt er sie millimeterkurz geschoren, ein silberner Schimmer um seinen Kopf. Keine Spur mehr vom Rebellen. Es steht ihm, diese Seriosität.
Er hat mich nicht erkannt. Das kränkt mich. Ich bin immer noch schlank, immer noch brünett, die Haare nur jetzt zum Zopf, immer noch mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen, von denen er früher gesagt hatte, mit denen könne man bestimmt gut pfeifen.
»Mit den Zähnen kann man bestimmt gut pfeifen«, sagt er jetzt, als er zu mir tritt. Ich stehe abseits, wen wundert’s, der einzig dezente Platz am Fenster für die Raucher, die nicht nach draußen wollen. Raucher:innen sozusagen. Kleiner Scherz. Ich mache beides nicht gern. Rauchen und draußen sein. Gendern schon. Das macht Sinn.
Seine Augen wandern an mir herab und wieder hinauf. Das tun Männeraugen immer noch, wenn jetzt auch nicht mehr so oft. Manchmal stelle ich mir vor, sie würden Farbspuren hinterlassen, und ich würde wissen, was an mir unsichtbar bliebe, wie bei den Rauchern, die nicht innen blieben und unsichtbar auf die Dachterrasse verschwinden.
»Ich kann nicht pfeifen«, antworte ich, heute wie damals, und das stimmt nicht.
»Dass das trotz Corona wieder möglich ist«, bemerkt er und weist mit der Hand auf die Gäste im Raum, alle getestet oder geimpft, der fünfzigste Geburtstag eines Bekannten und ich dachte im ersten Moment, er meint mit dieser Geste mich.
Graublau die Farbe seiner Augen. Das kann ich beantworten, auch wenn meine geschlossen wären. Zwischen hennaroten Strähnen hatten sie mich angestrahlt, ohne mich zu sehen. Das hatte ich mir einmal gewünscht.
»Darf ich?«
Er zieht eine Zigarette aus der Schachtel in meiner Hand. Damals hätte er das nie gefragt.
Bevor er sie an meiner anzündet, schaut er sich um, wendet dem Raum den Rücken zu, ganz bei mir, der Mann, das Lächeln; ich erinnere den Nikotingeschmack an seinen Fingern in meinem Mund. Meine Zunge an ihnen.
Vor ein paar Tagen habe ich ihn auf einem Plakat gesehen und nicht begriffen, dass er es war. Das Foto schwarzweiß, ein Scherenschnitt wie eine meiner Erinnerungen, auf dem Poster aber grünrot gerahmt. Sozial, positiv. Alternativlos.
Er sagt jetzt gerade etwas über die Ausbeutung bolivianischer Tabakbauern, dem hohen Wasserverbrauch, während er sich aus dem Fenster beugt und der Qualm seiner Zigarette sich zwischen den Häuserfassaden verflüchtigt. Erstaunlich, dass sich die Fenster hier oben überhaupt öffnen lassen. Nicht, dass jemand herausfällt.
Versehentlich. Oder springt.
Ich muss daran denken, wie ich mich nachts, nachdem das Licht gelöscht wurde, aus dem Fenster gebeugt hatte, um zu rauchen. Die Heimleitung fuhr da eine klare Linie, einmal erwischt, hätte ich gehen müssen. Aber wohin? Und wie?
Er hatte mir ins Gewissen geredet, als er die Kippen in meinem Nachtschrank fand.
»Ich weiß, Maus«, hatte er gesagt, es ist schwer, »aber das ist nicht der Weg zum Erwachsensein.«
Er hatte selbst geraucht, der Zigarettenrauch erinnert mich an ihn. Ein Herzsprung damals, als ich merkte, er betrachtete mich zwischen hennaroten Strähnen.
Die Zigarette aus dem Fenster geschnipst, folge ich der Kippe in Gedanken. Unentdeckt, niemand hatte den adretten Mann beim Qualmen mit der immer noch netten Brünetten erwischt.
»Kennen wir uns?«, fragt er mich jetzt. Ich krächze, verschlucke mich. Und ich verstehe selbst nicht, warum es mich befriedigt, dass er mich doch nicht gänzlich vergessen hat.
»Sorry, seit ich hier den Sozial-Alternativen im Ort vorstehe, begegne ich so vielen Menschen und ...«, er kreist seinen Zeigefinger neben seiner Schläfe, »... bring’ ich manches durch’n Tüddel.«
Sein Aftershave verstopft meine Lungen, als er sich vorbeugt. Diese Nähe bin ich nicht mehr gewohnt. Auch vor Corona nicht. Früher lehnte er künstliche Duftstoffe ab. FCKW, Tierversuche, ich fand das bewundernswert, während ich die Seife aus dem Gemeinschaftsbad unter den Wasserstrahl hielt, bis ein schleimiger Mantel entstand.
Sein Zeigefinger, jetzt an seinen Lippen, früher an meinen. Das »Pst« höre ich jetzt wie damals nicht, damit die anderen nichts mitbekommen. Ein Geheimnis zwischen uns.Ich weiß noch, wie salzig seine Haut schmeckte, als ich ihm jetzt zuschaue, wie er in die Zitronenscheibe beißt und sein Glas Tequila leert. Fünfunddreißig Jahre später. Etwas, was ein Mädchen nie vergisst, wenn sie noch nie so berührt worden war.
Ich denke an das erste Mal, wie sein Körper schwer auf mir liegen blieb, ein Schweißfilm zwischen uns und noch viel mehr.
»Bist du verletzt?« Er zeigt auf die Schiene an meinem Bein, hochmodern, nichts für bolivianische Tabakbauern, die wir gerade zusammen ausgebeutet haben. Ich starre auf die Lichter der Großstadt, die hier aus dem zehnten Stock wie Lichtpunkte auf inneren Lidern aussehen, wenn ich die Augen schließe.
Sein Du überrascht mich, frage mich, ob er sich erinnert oder ob die Sozial-Alternativen alle duzen, die mit ihnen zusammen den Planeten retten wollen. Ich will ihn auch retten. Trotz meines Egoismus’ den bolivianischen Bauern gegenüber. Bauer:innen. Arbeiten die nicht immer draußen? Kleiner Scherz. Das alles ist wegen der Erinnerung. Das Rauchen erinnert mich an ihn. Manches darf nicht vergessen werden.
Seine Hand an meinem Arm lässt mich zusammenzucken. »Warst du auch bei der Veranstaltung zum Asylbewerberheim in der Hegel-Gasse vor zwei Jahren?« Er dreht sich wieder mit ausladender Geste in den Raum und dann zurück zu mir ans Fenster. »Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass wir keine Masken mehr tragen.«
»Tragen wir nicht alle immer Masken?«, sage ich und beiße mir auf die Unterlippe. Im Spiegelbild der offenen Fensterscheibe betrachte ich sein Lächeln, sehe das Blitzen seiner Zähne zwischen den blassen Lichtern der Stadt, die es schaffen, der Spiegelung zu trotzen.