Es braucht im Leben mindestens eine Sucht, damit es wert-voll ist. Ich bin süchtig nach Büchern und empfinde es als Bereicherung. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die mich zu dieser Selbsthilfegruppe geschickt hat.
Unbekannte Augenpaare starren nun zu mir. Meine Hände sind schweißnass und ich reibe sie an den Oberschenkeln trocken, während ich langsam aufstehe. Die Sitzfläche des Stuhls gibt meinen Kniekehlen Halt, aber trotzdem ist alles in Bewegung. Die Wände des Raumes kommen bedrohlich nah auf mich zu, von der Decke fallen psychedelisch drehende bunte Kreise auf mich herab. Die Luft ist trocken und ihr fehlt le-bensnotwendiger Sauerstoff.
Es riecht nach Schweiß, altem, eingetrocknetem Schweiß und die Papillen meiner Zunge nehmen Angst wahr; Angst, die wie Blut schmeckt, süß und nach Metall. Volker sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl, seinem Thron, von dem aus er uns alle sieht. Er ist der Moderator und schaut mit riesigen Augen besonders erwartungsvoll zu mir, als wäre er auf Droge und wartet auf die Erleuchtung, auf den Höhepunkt eines Trips. Er ist mir unsympathisch. Schütteres Haar steht wie elektrisch aufgeladen von seinem Haupt weg und mit langen dünnen Fingern und deutlich abgekauten Fingernägeln trommelt er mit einer lächerlich weichen, fließenden Bewegung wie ein Klavierspieler auf seinem Knie herum. Ist es die Summe aus dem Äußerem des Therapeuten oder ein bloßes Gefühl, ich weiß es nicht. Ich würde gern fliehen, mich aus der Situation stehlen, doch das geht nicht; ich bin an der Reihe.
»Hallo, ich bin Bodo«, sage ich unsicher.
»Hallo Bodo«, sagen alle aus der Gruppe und ich kann Volkers Stimme raushören. Ich stehe inzwischen und ich weiß, was von mir erwartet wird. Es kommt mir nur schwer über die Lippen, doch ich überspiele meine Unsicherheit und die Säu-re, die mir die Speiseröhre heraufkriecht, mit meinen Worten.
»Ich bin Bodo und ich bin biblioman.«
Anerkennendes, rücksichtsvolles, aufmunterndes Nicken und wissende, mitfühlende Blicke. Von allen. Besonders von Volker. Der sagt schließlich: »Danke, Bodo. Schön, dass du bei uns bist. Erzähle uns mehr von dir. Wie ist es dazu gekommen, was hat dich zu uns gebracht und wie fühlst du dich jetzt?«
Er grinst mit diesem sicher überaus erfahrenen Moderatoren-Lächeln in die Runde und reibt mit den Händen genüsslich langsam über die Oberschenkel. Sehe ich da Vorurteile aus ihm herausströmen? Spüre ich dunkle Verwünschungen und billiges Mitleid stumm anklagend in seinem Blick, weil mit mir wieder eine arme Seele im Raum hockt, die am Rand der Gesellschaft gelandet ist?
Biblioman, was heißt das schon? Eine zusätzliche Einordnung, nichts weiter. Eine Sucht, vielleicht; ein echter Sinn auf jeden Fall. Brauche ich überall eine Kategorie, damit die anderen in der Runde brav ihre imaginären Schubläden öffnen und mich einsortieren? Dabei will ich es wie Alan Watts halten und selbstbewusst bis überheblich sagen: »Bodo Jensen, no Label.« Für die, die das nicht verstehen, bin ich ein Mann, eins achtzig groß, mediterraner Typ, nicht gerade athletisch, auch nicht dick, ein paar Macken, aber ansonsten ganz in Ordnung.
Gut, die Sache mit den Büchern – na und? Andere Leute sammeln jeden Mist und keiner sagt was. Überraschungseierfiguren, Briefmarken, Zehennägel. Ich habe vielleicht dreitausend Bücher, möglicherweise mehr, genau weiß ich es nicht, weil ich nicht zum Zählen komme. Und nun stehe ich vor Volker und den anderen Idioten und muss mich rechtfertigen, weil meine Mutter mich in »die Gruppe« geschickt hat.
»Das wird dir guttun«, hat sie gesagt. Und: »Da bist du un-ter Gleichgesinnten!«
Die Gleichgesinnten und ihre Bücher sind mir alle egal. Ich will einfach nur nach Hause. Mich ausruhen. Oder lesen. Oder in die Buchhandlung gehen; einfach so.
»Bodo?« Volker nervt wieder. Ich spüre die Blicke der anderen wie Stiche auf dem Gesicht, auf den Armen, auf mei-nen Beinen. Sie tun mir weh. Sie sollen mich in Ruhe lassen! Meine Atmung beschleunigt sich, die Hände beginnen zu zittern und ein fremdes Wesen mit harten Stacheln kriecht nun endgültig von meinem Magen über die Speiseröhre, hinab in die Lungen, steigt von dort wieder nach oben und sammelt sich in meinem Mund und da, endlich! Ich schreie ...
... und wache auf.